Von Markus Schulten, Bonn
Dem „kirchlichen Auftrag zur Mitgestaltung unserer freiheitlichen Demokratie“ widmete sich das 48. Essener Gespräch zum Thema Staat und Kirche in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ vom 11. bis 12.03.2013.
Ein Ereignis mit vielfältigen Konsequenzen
Als Papst Benedikt XVI. am 11.02.2013 seinen Rücktritt vom Papstamt erklärte, war die Welt um ein historisches Ereignis reicher – und das Essener Gespräch zum Thema Staat und Kirche 2013 um einen Referenten ärmer: Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, musste seinen angekündigten Vortrag kurzfristig absagen und zum am 12.03.2013 beginnenden Konklave nach Rom reisen.
Als nicht minder namhafter Referent konnte Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof (Heidelberg) gewonnen werden, der ursprünglich ab dem 48. Essener Gespräch als Tagungsleiter vorgesehen war – was dem langjährigen und bei dem 47. Essener Gespräch verabschiedeten Tagungsleiter Prof. Dr. Christian Starck (Göttingen) zu einem „Comeback“ verhalf. Vor diesem Hintergrund konnte Ruhrbischof Dr. Franz-Josef Overbeck in seiner Begrüßungsansprache mit Recht darauf hinweisen, dass diese Tagung unter „besonderen Vorzeichen“ stehe.
Hinführung zur Thematik
Thematisch sollte es u.a. um die Frage gehen, wie sich der kirchliche Auftrag innerhalb einer zunehmend religiös pluralisierten und zugleich zu religiöser Indifferenz neigenden Gesellschaft darstellt und rechtfertigt. In welchem rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmen bewegen sich die Kirchen? Für welche Werte stehen die Kirchen und wie sind sie heute zu vermitteln? Wie wirkt die Kirche in ihrer Eigenart als göttliche Stiftung auf den Staat: Muss sie angepasster oder gar bequemer Dialogpartner sein?
Bischof Overbeck stellte heraus, dass es (nicht zuletzt in der Öffentlichkeit) einen zunehmenden Rechtfertigungszwang für kirchliches Handeln gebe, jüngst erneut deutlich geworden im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts. Selbstkritisch müsse man einräumen, dass die Kirchen nicht selten auch auf Grund des eigenen Verhaltens berechtigten Anlass zur Kritik geboten haben. Overbeck erinnerte aber auch daran, dass bei aller Kritik die guten Seiten kirchlicher Tätigkeit allzu oft in Vergessenheit gerieten.
Das Tagungsthema „Der kirchliche Auftrag zur Mitgestaltung unserer freiheitlichen Demokratie“ war nicht ohne Bedacht gewählt. Thematisch „rückangeknüpft“ wurde an das im Jahr 1990 abgehaltene 25. Essener Gespräch unter dem Titel „Die Verantwortung der Kirche für den Staat“ (siehe Marré/Stüting [Hrsg.], Die Verantwortung der Kirche für den Staat. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Band 25, Münster 1991). Gilt der damals analysierte (gesellschaftliche wie rechtliche) Befund 23 Jahre später immer noch und – falls nein – was hat sich verändert und warum?
Vorträge
1. Felmberg, Die Kirchen als gesellschaftlicher Dialogpartner
Als erster Referent sprach Prälat Dr. Bernhard Felmberg (Berlin), seit Februar 2009 Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der EU, zum Thema „Die Kirchen als gesellschaftlicher Dialogpartner“. Felmberg beschrieb den Dialog als ein konstitutives Merkmal von Partnerschaft, denn das Verhältnis zwischen Staat und Kirche nach Lesart des GG ist ein kooperatives und wohlwollendes. Die einzelnen religionsbezogenen Garantien der WRV stehen dabei nicht exklusiv den Kirchen, sondern grundsätzlich allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften offen.
Als Partner des Staates nehmen die Kirchen subsidiär Aufgaben des Gemeinwohls wahr. Felmberg verwies – neben dem Kultur- und Bildungsbereich – insbesondere auf das weite Feld von Caritas und Diakonie und das darin geleistete vielfältige kirchliche Engagement, vermittelt durch eine Vielzahl haupt- wie ehrenamtlicher Mitarbeiter. Im Bereich der Bildung machte Felmberg deutlich, dass der finanzielle Beitrag der Kirchen die Höhe der staatlichen Ausgaben weit übersteige.
„Erschütterte Selbstverständlichkeiten“ und…
Unter dem Stichwort „erschütterte Selbstverständlichkeiten“ beklagte Felmberg, dass diese erprobte Partnerschaft zunehmend in Frage gestellt werde. Merkmal einer zunehmenden Religionsvergessenheit sei etwa, dass religiöse Motive für eigenes Handeln als weniger relevant und plausibel gewürdigt würden. Als Beleg dient die jüngst geführte Debatte um die Beschneidung männlicher Kinder muslimischen und jüdischen Glaubens oder auch die aktuellen Fragen rund um die religiöse Erziehung von Kindern und Jugendlichen. In einer Medien- und Erlebnisgesellschaft wird eine schwächelnde Volkskirche erklärungsbedürftig.
… Stabilisatoren des Staates
Dieser Befund ändere allerdings nichts daran, dass die Kirchen nach wie vor als Stabilisatoren des demokratischen Staates fungieren können und es – da sie selbst den freiheitlich demokratischen Staat als bevorzugte Staatsform anerkennen – vor dem Hintergrund ihres Selbstbildes auch müssen. Demokratie brauche eine – den Staat stabilisierende – Orientierung der Staatsbürger an Grundwerten. Der Staat selbst kann diese Stabilisierung nicht leisten. Felmberg warnte aber davor, in den Kirchen nur „demokratienützliche Wertelieferanten“ zu sehen. Er sieht eine Prägung der Gesellschaft durch die Teilnahme und die Konfrontation mit der lebendigen Erfüllung der kirchlichen Grundvollzüge. Gottesdienst und Gebet sind die Grundtätigkeit der Kirchen, deren rituelle Form nach wie vor von besonderer Anziehungskraft sei. Auch und gerade vor dem Hintergrund des liturgischen, diakonischen und Verkündigungsauftrages wirken die Kirchen in der Gesellschaft. Die christliche Religion dürfe dabei gerade nicht spiritualisiert werden und sich ins Private zurückziehen, sondern müsse aktiv mitgestalten.
Beispiele aus dem Arbeitsalltag
Wie konkret dieser Dialog im Alltag aussehen kann, schilderte Felmberg mit einigen Beispielen aus seinem Arbeitsalltag als Bevollmächtigter der EKD in Berlin und Brüssel. Im Herzen der politischen Gewalt erschöpfe sich die Tätigkeit des Bevollmächtigten nicht in seiner Aufgabe als Seelsorger/Prediger oder im Angebot von ökumenischen Gottesdiensten, Andachten oder Gebetsfrühstücken. Vielmehr wird die Möglichkeit wahrgenommen, zu aktuellen politischen Themen Stellung zu beziehen und die kirchliche Position zu bewerben. Als Beispiele nannte er die deutliche kirchliche Intervention zur Problematik der kommerzialisierten Sterbehilfe oder das Engagement für den Religionsunterricht.
Diskussion
In der anschließenden Diskussion wurde zunächst festgehalten, dass es nicht nur – wie Felmberg deutlich machte – um die Frage gehen könne, was der Staat den Kirchen ermöglicht, sondern auch darum, welchen Auftrag die Kirchen aus sich selbst heraus haben. Es bestand Einigkeit, dass den christlichen Kirchen bei sinnstiftenden Anliegen bzw. kirchlich motiviertem Engagement kein Exklusivitätsanspruch zusteht – auch andere Religionsgemeinschaften sind Bestandteil des die Grundrechte schützenden, fürsorglichen Staates. Auch sie dürfen Ansprüche anmelden. Jüngst abgeschlossene Verträge mit muslimischen Gemeinschaften sind dafür ein deutlicher Beleg. (Die Bundesländer Bremen, Hamburg und Niedersachsen haben jüngst – im Ganzen zu begrüßende, im Einzelnen z.T. aber juristisch diskussionswürdige – Verträge mit muslimischen Verbänden abgeschlossen, d. Verf.) Allerdings stehen sie dann auch in einer Bringschuld – dem Staat und der Gesellschaft gegenüber.
Felmberg skizzierte anhand vieler Zahlenbeispiele den tatsächlichen Umfang des kirchlichen Engagements, sah aber auch die einer ungehemmten quantitativen Ausbreitung inhärente Gefahr, den eigentlichen Kern kirchlicher Tätigkeit aus den Augen zu verlieren. Es wurde daran erinnert, dass es nicht der primäre Zweck der Kirche sei, eine Diakonie zu unterhalten – es gehe um den Glauben und ein Leben aus den Sakramenten. Damit war auch die Fragestellung berührt, ob und wie man das spezifisch christliche Profil kirchlicher Einrichtungen weiter stärken kann; angesichts einer zunehmend nachlassenden inneren Bindung der eigenen Mitarbeiter an die Glaubensüberzeugungen des Christentums stehen die Kirchen hier vor einer Mammutaufgabe. Gerade im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts ist in der Zukunft ein konsequenteres Handeln unerlässlich – wenn sich Einrichtungen nicht mehr eindeutig zum Dritten Weg und zur Kirchlichkeit bekennen können, können sie auch nicht länger an der kirchlichen Dienstgemeinschaft teilhaben. Ein Auseinanderfallen von Kultkirche und Diakoniekirche gilt es zu verhindern.
Ein wichtiges Element des dialogischen Verhältnisses der Kirchen zum Staat ist eine solide und spezifisch kirchliche Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Hier war der nicht erst seit Kurzem größer werdende Umfang kirchlicher Stellungnahmen in der Öffentlichkeit Anlass zu kritischen Rückfragen. Felmberg betonte, dass sich die Kirchen schon dadurch von Dritten unterscheiden können, dass sie sich gerade nicht zu jedem Thema öffentlich äußern. In der heutigen Medienlandschaft bestehe dann natürlich die Gefahr, dass zu langes Schweigen dazu führen könne, irgendwann überhaupt nicht mehr gefragt zu werden. Ein wirklicher Mittelweg wird sich hier nur schwerlich finden lassen. Gerade aber in essenziellen Fragen wie z.B. dem Bereich von Ehe und Familie erwächst den Kirchen aus ihrer Natur ein Auftrag, die Stimme zu erheben – auch wenn der mediale Druck zunimmt und nach der Zeitgemäßheit der kirchlichen Positionen fragt.
Wie angesichts der aktuellen Gesetzesänderung nicht anders zu erwarten, kam im Rahmen der Diskussion um das (vermeintliche) Nachlassen des religiösen Verständnisses in der Gesellschaft auch die Thematik der Beschneidung von muslimischen/jüdischen Knaben auf. Felmberg vermutete, dass die Politik die Dimension und die Dynamik der Diskussion zunächst unterschätzt habe. Frühzeitig wurde im politischen Betrieb auf die Parallele zur Taufe hingewiesen – in beiden Fällen wird man durch einen rituellen Akt konstitutiv (und unwiderruflich) Mitglied einer Religionsgemeinschaft. Doch hinkt der Vergleich insofern, als die Taufe zum einen (rein tatsächlich) keine unmittelbaren körperlichen Folgen hat und es zum anderen (theologisch) mit der Firmung bzw. der Konfirmation einen weiteren rituellen Aufnahmeakt in die volle Gemeinschaft der Gläubigen gibt.
Grundrechtsdogmatisch wurde herausgearbeitet, dass die Beschneidung kein Akt sei, der aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) abgeleitet werden kann, da die Religionsfreiheit ein Selbstbestimmungsrecht ist. Nur das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG gebe ein Drittbestimmungsrecht – ob dem Gesetzgeber mit der jüngsten Gesetzesänderung die optimale Lösung geglückt ist, bleibt abzuwarten
2. Huber, Glaube als Option – Der kirchliche Auftrag im Pluralismus der Gesellschaft
Der Nachmittag des ersten Tages stand im Zeichen eines Doppelvortrags. Nacheinander referierten Prof. Dr. theol. Dr. h.c. Wolfgang Huber, bis 2009 Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland, zum Thema „Glaube als Option – Der kirchliche Auftrag im Pluralismus der Gesellschaft“ sowie Prof. Dr. iur. Dres. h.c. Paul Kirchhof, seit 1981 Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg, mit seinem Beitrag „Der kirchliche Beitrag zu Freiheit und Demokratie“.
Huber gelang mit seinen einleitenden theologischen Bemerkungen ein bemerkenswerter ökumenischer Einstieg. Die Themenstellung lasse sich nicht auf eine christliche Konfession verengen, sondern betreffe die christliche Religion in all ihren Ausprägungen, d.h. auch der Orthodoxie und der anglikanischen Kirche.
Modernisierung ≠ Säkularisierung
In der Gesellschaft gebe es eine mitunter herablassende Begleitmusik bei der Betrachtung der christlichen Kirchen mit dem vereinzelt wahrzunehmenden Tenor, dass von den Kirchen nicht mehr viel übrig sei. In den Reihen der Gläubigen mache sich zunehmend Resignation breit. Ein göttlicher Plan wird im kirchlichen Handeln schon lange nicht mehr erkannt, und es setzt sich die Vorstellung fest, dass das Christentum schwindet. Doch trotz einer vielfach angenommen postsäkularen Gesellschaft leben religiöse und spirituelle Elemente zunehmend wieder auf. Die These, dass zum Prozess der Modernisierung ein unaufhaltsamer Säkularisierungsprozess gehöre, habe sich nicht bestätigt.
Huber analysierte in der Folge pointiert die bis in die 1990er-Jahre vorherrschende Säkularisierungsthese. Aus dem Begriff „Säkularisierung“ seien im Wesentlichen drei Begriffsgehalte abzuleiten: Säkularisation beziehe sich erstens auf die Säkularisation der staatlichen Ordnung, zweitens auf eine veränderte Rolle religiöser Institutionen und drittens auf einen Prozess der Transformation.
Die Säkularisation der staatlichen Ordnung bewirkt eine Ausgangslage, für welche die Kirchen dankbar sein müssen: Der Religionsfreiheit des Einzelnen steht die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates gegenüber. Huber gab aber zu bedenken, dass die Initiativen zur Förderung der staatlichen Säkularisation regelmäßig aus einer Position als Minderheitenreligion resultierten.
Unter dem Säkularisationsgesichtspunkt vom Funktionswandel der Institutionen führte Huber aus, dass ein solcher Wandel immer wieder (nicht zuletzt von den Kirchenverantwortlichen) auch als Funktionsverlust wahrgenommen werde. Die Kirchen verlieren ihre Monopolstellung. Religionsfeindlichkeit werde nicht als eine Option von vielen innerhalb einer pluralen Gesellschaft wahrgenommen, sondern bereits als „Grundzug“ der Moderne insgesamt.
Schließlich vertiefte Huber den dritten Aspekt der Säkularisierung als Transformation religiöser Sinnzusammenhänge in Themen weltlicher Verständigung. In aktuellen Diskussionen gerate das spezifisch Religiöse in einen lebensweltlichen Kontext; der religiöse Gehalt verblasse. Wenn sich die Kirchen an dieser Schnittstelle aber nicht behaupten und sich das Religiöse nicht mehr von der Lebenswelt unterscheide, liefern sie sich der Selbstsäkularisierung aus.
Entsäkularisierung
Sowohl der Begriff der Säkularisation als auch die häufig anzutreffenden „Gegenthesen“ von der Entsäkularisierung bzw. der postsäkularen Gesellschaft bergen die Gefahr in sich, dass der Glaube auf eine rein anthropologische Dimension reduziert werde. Huber sprach sich deutlich für den trennschärferen Begriff von der religiösen Pluralisierung aus. In der Pluralität der Gesellschaft bleibe der christliche Glaube eine gelebte und lebensdienliche Option. In einem pluralen Rahmen ist er nicht von einer unausweichlichen Erosion bedroht, sondern kann eine neue Vitalität entfalten.
Glaube als Option
Glaube als Option habe dabei eine prognostische und eine programmatische Komponente. Als realistische Prognose gilt, dass Religion und religiöse Optionen nicht verschwinden werden. Allerdings ist zu konstatieren, dass der christliche Glaube in der Gesellschaft kein Monopol mehr für Sinnfragen hat. Es gibt keine stabilen christlichen Milieus im traditionellen Sinne mehr.
Die programmatische Komponente behandelt die Frage, woran man sich dann zu orientieren hat. Herkunft und Familie spielen eine hervorgehobene Rolle. Es reicht nicht mehr, die Glaubensbindung an die nächste Generation einfach nur weiterzugeben. Sie muss auch in der nächsten Generation geweckt werden. Religion als „Option“ muss als Lebensform überzeugen. Huber betonte, dass man dabei nicht der Versuchung erliegen darf, im Sinne einer möglichst überzeugenden Darstellung der eigenen Position den christlichen Glauben vor dem Hintergrund vieler Optionen zu verdünnen. Soziale Präsenz und intellektueller Unterbau der Religion sollen sich nicht gegenseitig ausschließen.
Huber schloss mit einem deutlichen Hinweis, dass der christliche Glaube eine Freiheitsbotschaft ist, geprägt von einem kommunikativen Charakter. Diese Botschaft kann in der freiheitlichen Demokratie, in unserem Verhältnis von Staat und Kirche, zu optimaler Entfaltung kommen. Der Auftrag der Kirchen ist es, dem Glauben Raum zu geben und ihn zu feiern, im Glauben zu bilden, aus Glauben in der Liebe tätig zu sein.
3. Kirchhof, Der kirchliche Beitrag zu Freiheit und Demokratie
In seinem unmittelbar anschließenden Vortrag stellte Kirchhof zunächst einen gravierenden kulturellen Umbruch innerhalb des Staatswesens und der Gesellschaft fest. Der Staat setzt heutzutage Recht, ohne dieses sittlich rechtfertigen zu müssen. Darin liege zwar zum einen ein besonderer politischer Erfolg moderner Staatskulturen, zum anderen aber auch eine bedrohliche innere Leere. Im Wesentlichen sieht Kirchhof aktuell drei Gründe für diesen kulturellen Umbruch: Erstens sei auch das staatliche Denken zunehmend vom Prinzip der Gewinnmaximierung überlagert, zweitens werde die christliche Vorstellung von einer gemeinsamen, Werte formulierenden Schrift (sei es die Bibel oder das GG/die Verfassung) abgelöst von der PC- und Medienwelt, in der es ein unkontrolliertes Übermaß an greifbarem Wissen gibt; drittens seien Ehe und Familie als Ursprung der Freiheit einem zunehmenden Wandel unterworfen.
Unklare Grundlagen der Freiheit
Der Staat lässt die Frage nach der religiösen Wahrheit zu Recht offen. Allerdings fertigt er auch Recht, ohne es sittlich rechtfertigen zu wollen. Geradezu exemplarisch dafür seien die nach Ende des Zweiten Weltkriegs festgeschriebenen Menschenrechte. Hier habe eine Verständigung über die Rechtsfolgen von Freiheit und Gleichheit stattgefunden, ohne aber die gemeinsamen Grundlagen zu begründen. Diese Grundlagen werden zunehmend unklar.
Die IT-Gesellschaft ermöglicht zwar einen weltweiten Informationsfluss nebst Vernetzung, ermöglicht aber allzu leicht ein mediales Anprangern und Bezichtigen und ein hämisches Entblößen des Anderen. Damit wird eine Kultur des Vergebens und Vergessens behindert. Die „alte Tugend“ des Handelns nach bestem Wissen und Gewissen ende heutzutage beim Wissen.
Kirchhof monierte, dass Ehe und Familie als Ursprungsgemeinschaft der Freiheit an Bedeutung zu verlieren drohen, ohne dass an ihre Stelle etwas Ähnliches gesetzt werde. Der einzelne Mensch folge bei seinen existenziellen Lebensentscheidungen einem Freiheitsverständnis, welches Freiheit nicht als Kraft zur Bindung, sondern zur Bindungslosigkeit versteht. Der Mensch laufe Gefahr, nur noch als Arbeitnehmer und Konsument klassifiziert zu werden.
Kirche als Institution der Vergewisserung
In diesem Umfeld obliege es nun den Kirchen, Impulse für die Freiheit zu setzen, in dem sie sich wieder verstärkt den Menschen zuwenden und so Staat und Kirchen erneuern. Eine freie Gesellschaft ist aber auch angewiesen auf die innere Bindung der Menschen. Die Kirchen liefern diese inneren Werte. Kirchliche Verantwortlichkeit gilt insbesondere der Demokratie, in welcher mit dem Prinzip der Selbstregierung aller Bürger und dem Prinzip der rechtlichen Bindung aller politischen Herrschaft zwei staatsrechtliche Grundideen aufeinander treffen. Hier obliegt es den Kirchen, für diese Staatsform zu werben und zu verhindern, dass die demokratische Realität nicht durch ausufernde Mediendebatten oder medialen Pranger in ihrer Legitimität und ihren Wirkungsmöglichkeiten verhindert wird. Das bekannte und vielfach zitierte Böckenförde-Diktum ist dabei kein Entlastungswort für den Staat. Es ist nach Kirchhof eine Verpflichtung für all diejenigen, die für Ethos und Moral stehen. Die Kirchen haben im Rahmen ihres Verkündigungsauftrages bzw. in ihrem karitativen und diakonischen Wirken auch die Grundlagen des Verfassungsstaats zu pflegen.
Abschließend führte Kirchhof die Wirkungen dieses kirchlichen Auftrags aus: Die Kirchen geben dem Menschen geistige Weite. Zahlreiche andere Bewegungen werfen die Frage nach dem „Was war vorher?“ nicht auf. Das optimistische Weltbild des Christentums ist dem rein empirisch und ökonomisch geprägten Weltbild überlegen. Staat und Kirchen wirken zusammen, um das Wertefundament der Gesellschaft zu festigen. Dies geschieht z.B. durch den Religionsunterricht an staatlichen Schulen mit dem Ziel, den Bürger erst religionsmündig zu machen und ihn religiös-ethisch zu profilieren. Es geschieht aber auch durch den kirchlichen Beitrag etwa im Rahmen von Anhörungen bei Gesetzgebungsprozessen. Hier wird den Kirchen die Möglichkeit eröffnet, den aus ihrer Lehre resultierende Vorstellungen von Gerechtigkeit und ethischen Mindestvoraussetzungen Gehör verschaffen können.
Diskussion
Die von den Referenten gewählten Perspektiven und offerierten Thesen luden zu einer weitgreifenden Diskussion ein.
So sei die Darstellung des Phänomens gesellschaftlicher Säkularisierung und Pluralisierung nach einer Ansicht zu sehr als Geschichte des Verfalls dargestellt worden. Auch gebe es in einer säkularen Rechtsordnung durchaus naturrechtliche bzw. „überpositive“ Ankerpunkte. So finde man nicht nur den Gottesbezug in der Präambel des GG und die Menschenwürde als oberstes Schutzziel der staatlichen Ordnung, sondern auch das natürliche Elternrecht sowie das deutungsoffene Sittengesetz im Verfassungstext. Darin liege ein deutlicher Hinweis, dass der Verfassungstext zum einen bestimmte unantastbare Elemente vorhält, zum anderen auch stellenweise bewusst unvollständig sein wollte.
Zum Gehalt der Menschenwürdegarantie wurde festgestellt, dass es gerade die Stärke der grundgesetzlichen Formulierung sei, dass sie deutungsoffen ist. Sie ist ein Verfassungskonsens, der in der Gesellschaft breite Zustimmung genießt. Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen konnte man sich bei Art. 1 GG darüber einigen, was menschenunwürdig ist. Kirchhof wollte sich hier nicht missverstanden wissen: Natürlich seien verschiedene Begründungen des Menschenwürdesatzes möglich – wichtig sei nur, dass man ihn auch begründet.
Unter dem Stichwort „Missionierbarkeit“ wurde diskutiert, ob und wie man, sofern man die These vom Glauben als Option teilt, Religion und Glauben wieder attraktiver machen kann. Die besondere Bedeutung des Religionsunterrichts wurde in diesem Zusammenhang herausgearbeitet, wobei die (nicht erst seit jüngerer Zeit) bestehende Problematik gesehen wurde, dass der Religionsunterricht sein ursprüngliches Ziel wohl nicht mehr erreicht. Viel zu selten werden die Wissensbestände des Glaubens noch im Religionsunterricht vermittelt. Kirchhof betonte, dass fromme/gläubige Religionslehrer, die den Glauben annehmen und leben, ein erster tauglicher Schritt zu einem gehaltvolleren Religionsunterricht sind; ebenso bieten sich auf Ebene der Kindergärten vielfältige Möglichkeiten, neben den Kindern auch wieder gestärkt die Eltern anzusprechen. Huber bekräftigte den Missionierungsauftrag der Kirchen, mahnte aber zugleich, dass es auch auf Seiten der Menschen Verantwortungsbereitschaft geben muss.
Vielgestaltige Argumente wurden ausgetauscht bei der Frage nach dem Zusammenspiel von Glauben und Vernunft. Selbst bei renommierten Neutestamentlern gebe es zunehmende Kontroversen um die Frage „Was kann/soll man glauben?“ Zugestimmt wurde den Referenten bei der Feststellung, dass der christliche Glaube auch intellektuell ansprechend vermittelt werden muss. Werden die Aussagen unverständlich, so sind einer erklärenden Vernunft auch Grenzen gesetzt. Welchen Vernunftbegriff man zu Grunde legen soll, blieb offen.
Der Streit um den Begriff „Säkularisierung“ und seinen Inhalt nebst Auswirkungen wurde auch in der Diskussion deutlich. Ein Diskutant regte an, den Begriff „Säkularisierung“ durch „Profanierung“ der Gesellschaft ersetzen. Ein anderer betonte, dass ein Begriff wie „Selbstsäkularisierung“ nur mit Vorsicht zu verwenden sei. Insbesondere für Theologen stelle sich heute das Problem, dass bestimmte traditionelle Begriffe zunehmend „abgegriffen“ sind. Der Begriff der „Sünde“ sei vollends säkularisiert, so dass sich für die Theologie die vorwiegende Aufgabe stelle, die biblische Sprache des Glaubens in die heutige, säkulare Sprache zu transformieren.
4. Muckel, Das deutsche Staatskirchenrecht als Rahmen für den Auftrag der Kirchen im freiheitlichen Verfassungsstaat
Zu Beginn des zweiten Tagungstages referierte Prof. Dr. Stefan Muckel, seit 1998 Direktor des Instituts für Kirchenrecht und rheinische Kirchenrechtsgeschichte der Universität zu Köln und Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Kirchenrecht, über „Das deutsche Staatskirchenrecht als Rahmen für den Auftrag der Kirchen im freiheitlichen Verfassungsstaat“ und beschrieb die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten, Grenzen und Probleme der Wahrnehmung des kirchlichen Auftrags.
Jenseitiger Auftrag
Muckel stellte – in Anlehnung an Hubers Ausführungen – fest, dass der kirchliche Auftrag eigentlich nicht auf das Diesseits bzw. das politische System gerichtet ist. Die Erfüllung des göttlichen Auftrages hat aber natürlich politische Wirkung. Der religiöse Auftrag führt zum Dienst am Nächsten, der Staat fördert und (im günstigsten Falle) unterstützt die Kirchen dabei. Diese bieten durch ihre Dienste dem säkularen, religiös-neutralen Verfassungsstaat moralische Substanz und Grundlage für seine Gesetze. Sie prägen eine Ethik der Verantwortung und ermutigen die Bürger zu Eigenverantwortung und zur Vermittlung von Demokratie als Lebensform.
Under pressure
Muckel „interagierte“ in seinem Vortrag bewusst mit den Ausführungen Josef Isensees beim 25. Essener Gespräch (Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Marré/Stüting [Hrsg.], Die Verantwortung der Kirche für den Staat. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Band 25, Münster 1991, S. 105 bis 146). Dort wurde u.a. festgehalten, dass das Verhältnis von Staat und Kirche von Kooperation auf breiter Fläche und nicht von einseitiger Instrumentalisierung geprägt sei. Isensee identifizierte einst die Kirchen als Größen, welche die ethischen Regeln der Demokratie sichern: Fairness, Redlichkeit, Maß und Toleranz. Nach Muckel haben die gesellschaftlichen Veränderungen mittlerweile dazu geführt, dass der besondere rechtliche Status der Kirchen unter Legitimationsdruck geraten ist und nicht mehr bloß historisch erklärt werden kann. Die Kirchen sind zwar nach wie vor willens, den an sie gerichteten Verfassungserwartungen nachzukommen, doch ist ihre zukünftige Kompetenz dazu in Frage gestellt. Die konfessionelle Bindung der Bundesbürger an die christlichen Kirchen liegt bei ca. 60%. Glaube wird zwar nach der aktuellen Sinus-Studie „Wie ticken Jugendliche 2012“ von Jugendlichen als alltagstauglich angesehen, völlig unabhängig aber von der Institution „Kirche“. Muckel steigt nicht in den pessimistischen Chor derer ein, die das Christentum in Europa vor dem Ende sehen, gibt aber allein auf Grund der Zahlen und gesellschaftlichen Eckdaten zu bedenken, dass von den Volkskirchen schon sehr bald keine Rede mehr sein kann.
New hope
So verwundert es nicht, dass die ursprünglich an die Kirchen adressierten Verfassungserwartungen zunehmend auch von jungen Religionen und Religionsgemeinschaften erfüllt werden können, die sich um den Zugang zu den staatskirchenrechtlichen Institutionen bemühen. Wie die Beispiele des Religionsunterrichts für Muslime in Nordrhein-Westfalen (vgl. § 132a SchulG) und die andauernden Bestrebungen kleinerer (Bahá‘í) und größerer (Islam) nicht-christlicher Religionen zeigen, nehmen zunehmend andere religiöse Akteure die verfassungsrechtlichen Erwartungen auf und vor allem wahr. Ob die in Nordrhein-Westfalen zur Problematik des islamischen Religionsunterricht gefundene Lösung vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund des Art. 7 Abs. 3 GG zu bestehen vermag, ist indes eine noch ungeklärte Frage.
Zukunft und Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts
Schließlich stellte sich nicht zuletzt vor diesem Hintergrund die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts. Trotz zunehmenden europarechtlichen Einflüssen und gesellschaftlichen Veränderungen habe sich das deutsche Staatskirchenrecht bewährt, weil es hinreichend flexibel sei. Dabei darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass das BVerfG eine deutliche Trendwende in der Würdigung der religionsrechtlichen Vorschriften des GG vorgenommen hat. Die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG wurde (nach religiös-pluralistischem Verständnis) als Leitidee der Staatskirchenrechts herausgearbeitet, wohingegen die über Art. 140 GG inkorporierten Weimarer Kirchenartikel als funktional auf die Verwirklichung dieser Freiheit ausgerichtet gedeutet werden (deutlich geworden etwa in der sog. Zeugen Jehovas-Entscheidung, BVerfGE 102, 370 [386 f.], d. Verf.). Dieses weiterhin Verfassungserwartungen aussprechende, aber eben auch grundrechtskonzentrierte Staatskirchenrecht vermag dem der christlichen Offenbarung verpflichteten Wirken der Kirchen einen festen und sicheren Rahmen zu geben. Der staatskirchenrechtliche Rahmen hat sich aber an vielen Stellen verändert.
Muckel skizzierte diese veränderten Rahmenbedingungen an einigen Schnittstellen des Verhältnisses von Staat und Kirche. Beim kirchlichen Selbstbestimmungsrecht (Art. 137 Abs. 3 WRV) zum Beispiel werde der vom BVerfG ursprünglich einmal zugebilligte, stark subjektivierte, Rahmen zunehmend kleiner. So zeige ein jüngerer Beschluss des BVerfG zum Brandenburgischen Landespflegegesetz, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nicht mehr so konsequent und hervorgehoben gewürdigt werde (BVerfG, Beschl. v. 17.10.2007 – 2 BvR 1095/05). Auch die Kritik des EGMR in der Rechtssache „Schüth“, die deutschen Arbeitsgerichte hätten die Auffassung des kirchlichen Arbeitgebers nicht ohne Weiteres übernehmen dürfen, stimme vor dem Hintergrund des Art. 137 Abs. 3 WRV bedenklich (EGMR, Urt. v. 23.09.2010 – Nr. 1620/03). Schließlich lasse auch die äußerst neutrale Wortwahl des BVerwG in der jüngsten Entscheidung zum Kirchenaustritt aufhorchen (z.B. „innergemeinschaftliche Recht“ statt Kirchenrecht) (BVerwG, Urt. v. 26.09.2012 – 6 C 7.12).
Im Bereich des Kirchenvertragswesens stellte Muckel die jüngst mit den muslimischen Verbänden geschlossenen Verträge kurz vor. Darin werden konkrete Verfassungserwartungen an die Vertragspartner formuliert, welche die muslimischen Verbände auch bereit sind, anzunehmen. Die vertraglichen Absprachen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften erlauben, den in seinen Grundzügen enger werdenden Rahmen des Staatskirchenrechts wieder zu weiten und konkrete Rechte der Religionsgemeinschaften mit zusätzlicher Legitimation zu versehen.
Diskussion
Die folgende Diskussion glich stellenweise einem „Parforceritt“ durch klassische wie aktuelle Fragen zum Staatskirchenrecht. Zunächst wurde an den in den letzten Jahren intensiv geführten (begriffspolitischen) Grundsatzstreit angeknüpft, ob das Staatskirchenrecht zutreffender als „Religionsverfassungsrecht“ oder „Religionsrecht“ bezeichnet werden sollte. Eine für den Begriff „Religionsverfassungsrecht“ streitende Ansicht stellte darauf ab, dass das Rechtsgebiet diesen Begriff schon deshalb tragen muss, wenn es das erreichen will, wofür es konzipiert ist: als ein freiheitlicher Rahmen für jede Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft. Vor dem Hintergrund der leichten sprachlichen Veränderungen im religionsrechtlichen Duktus wird es an den Kirchen selbst liegen, die Plausibilität ihrer Rechtspositionen neu darzulegen – wobei die Letztentscheidungskompetenz der staatlichen Gerichte unangetastet bleibt.
Muckel gab sich im „Begriffsstreit“ eher begriffsoffen, solange man mit den Begriffen nicht auch unterschiedliche Inhalte transportiert. Ob diese Trennung von Begriff und Inhalt aber so praktikabel ist, begegnete Bedenken, denn ein konstanter Ausdruckswandel birgt stets das Potenzial in sich, auch zu einem inhaltlichen (Verständnis-)Wandel zu führen.
Eine Neutralisierung der Begriffe, so wie sie das BVerwG in der Entscheidung zum Kirchenaustritt vorgenommen hat, wurde nicht überall so kritisch gesehen. Sie entspreche eher einem neutralen Rechtsverständnis. Nicht zu Unrecht erschien es einem Teilnehmer problematischer, dass für zentrale Begriffe des Staatskirchenrechts – wie der „Religionsgemeinschaft“ – auf Definitionsmodelle aus den 1920er-Jahren zurückgegriffen werden muss.
Muckels These von der Flexibilität des Staatskirchenrechts wurde weit überwiegend geteilt. Mahnende Stimmen erhoben sich dahingehend, dass bei gegenwärtiger Lage die Erwartungen des Staates an die Kirchen umzuschlagen drohen in einen Auftrag des Staates an die Religionsgemeinschaften (z.B. im Rahmen des islamischen Religionsunterrichts). Andere stellten den Begriff „Verfassungserwartung“ per se in Frage. Erwartungen seien zwar formulierbar, hätten aber keinen normativen Charakter und stellen somit keine Voraussetzungen auf für die Wahrnehmung der aus der Religionsfreiheit resultierenden Rechte.
Kritisch hinterfragt wurde auch der Umgang der Rechtsprechung mit der Frage des Körperschaftsstatus gem. Art. 137 Abs. 5 WRV und dessen Erteilungsvoraussetzungen. Die nicht unwesentlich von der Ministerialbürokratie geprägten Tatbestandsvoraussetzungen (Promille-Grenze, Bestandsgarantie usw.) seien nicht so bestandsfest, wie ein Blick auf Art. 143 BV deutlich zeige. Die Forderung nach einer Verfassungstreuepflicht der Religionsgemeinschaften wies Muckel deutlich zurück. Loyalität zum Staat sei nicht erforderlich, das Bekenntnis zu den Grundwerten aus Art. 79 Abs. 3 GG reiche aus.
Zur Entscheidung des BVerfG zum Sonntagsschutz (BVerfG, Urt. v. 01.12.2009 – 1 BvR 2857/07 und 1 BvR 2858/07) gingen die Ansichten auseinander, ob eine objektiv-rechtliche Rechtsposition wie der Sonntagsschutz tatsächlich grundrechtlich zu legitimieren ist oder ob die Auslegung des BVerfG, das eine Schutzpflicht des Staates erkennt, eher „gekünstelt“ ist.
Fazit
Die diesjährigen Essener Gespräche haben deutlich gemacht, dass sich bestimmte gesellschaftliche Prozesse (religiöse Pluralisierung bei nachlassender institutionell-kirchlicher Bindung) seit dem letzten Dialog zu diesem Thema im Jahre 1990 noch verstärkt haben. Der freiheitliche Rahmen des deutschen Staatskirchenrechts stand den Kirchen nie ganz exklusiv zu – aber erst jetzt sind bedeutende andere Religionsgemeinschaften ebenfalls dazu in der Lage, diesen Rahmen mit Inhalt zu versehen.
Anmerkung der Redaktion
Markus Schulten ist juristischer Referent am Institut für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands in Bonn; er war Wiss. Mitarbeiter bei den Essener Gesprächen.
Der Beitrag ist zunächst in den Internetseiten der Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche erschienen. Herzlichen Dank an Rechtsanwalt Dr. Burkhard Kämper und Markus Schulten für die Möglichkeit, ihn hier in redigierter Fassung zu veröffentlichen!
Kommentar verfassen