Bei der Strafverfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst unter anderem Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfassen würde, spricht im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund in Zusammenhang steht. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden und Gerichte, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen. Dem genügt es nicht, wenn die Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes auf einer diffusen Tatsachengrundlage und unter Unterschreitung des Regelbeweismaßes der vollen richterlichen Überzeugungsgewissheit bejaht werden. Dies hat das BVerwG in Leipzig entschieden.
Mit den angegriffenen Urteilen hat das OVG die beklagte Bundesrepublik Deutschland in einer Reihe von Verfahren verpflichtet, den in den Jahren 1986 bis 2002 geborenen Klägern, syrischen Staatsangehörigen, über den ihnen gewährten subsidiären Schutz hinausgehend den Flüchtlingsschutz zuzuerkennen. Den Klägern drohe Verfolgung auf Grund einer ihnen wegen ihrer Militärdienstentziehung vom syrischen Regime zugeschriebenen oppositionellen Haltung. Auch wenn die Bewertung der maßgeblichen Tatsachengrundlagen in Bezug auf die geforderte Konnexität zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund in gewissem Maße diffus bleibe und für eine vollständige gerichtliche Überzeugungsbildung eher nicht genügen dürfe, bestehe aber eine – ausreichende – Vermutung, dass die Bestrafung der Kläger (auch) aus politischen Gründen erfolge, weil sie als vermeintliche politische Gegner des Regimes diszipliniert werden sollten.
Der 1. Revisionssenat des BVerwG hat die Berufungsurteile aufgehoben und die Verfahren an das OVG zurückverwiesen.
Der EuGH hat entschieden, dass das Bestehen einer Verknüpfung zwischen den gesetzlich vorgesehenen Verfolgungsgründen nach Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU und einer Verfolgungshandlung i.S.v. Art. 9 Abs. 2 lit. e dieser Richtlinie nicht allein deshalb als gegeben angesehen werden kann, weil Strafverfolgung oder Bestrafung an diese Verweigerung anknüpfen. Es spricht aber eine starke Vermutung dafür, dass die Wehrdienstverweigerung durch die Behörden des betroffenen Drittstaats unabhängig von den eventuell viel komplexeren persönlichen Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt wird und die Militärdienstverweigerung unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e der Richtlinie mit einem der fünf in Art. 10 der Richtlinie aufgezählten Verfolgungsgründen in Zusammenhang steht. Die Plausibilität der Zuschreibung der oppositionellen Haltung und der Verknüpfung steht unter dem Vorbehalt der tatsächlichen Prüfung durch Behörden und Gerichte in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände. Hiermit geht keine Absenkung des Regelbeweismaßes der vollen richterlichen Überzeugungsgewissheit nach § 108 Abs. 1 VwGO einher. (BVerwG, Urt. v. 19.01.2023 – BVerwG 1 C 1.22)
Pressemitteilung des BVerwG Nr. 4 v. 19.01.2023
Anmerkung der Redaktion
Bei dem in der Pressemitteilung genannten OVG handelt es sich um das OVG Berlin-Brandenburg.
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