Von Elisabeth Hartmeyer, Tübingen
Am Donnerstag, dem 25.10.2012, hatte die Forschungsstelle kirchliches Arbeitsrecht zum Symposion „Streik im Dritten Weg?“ eingeladen. In der großen Resonanz der ca. 70 Teilnehmer aus Wissenschaft und Praxis spiegelte sich bereits die Brisanz und Aktualität des Themas wider: Das BAG wird sich am 20.11.2012 mit der Frage des Streikrechts in kirchlichen Einrichtungen befassen.
Die EGMR-Rechtsprechung zum Streikrecht und ihre Konsequenzen für Streikverbote in Deutschland
Nach einer einleitenden Begrüßung durch Prof. Dr. Hermann Reichold, dem Leiter der Forschungsstelle, referierte Prof. Dr. Martin Franzen (Universität München) zum Thema „Die EGMR-Rechtsprechung zum Streikrecht und ihre Konsequenzen für Streikverbote in Deutschland“. Franzen betonte zunächst die besondere Bedeutung, die die europäische Rechtsprechung für den Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts einnehme, und zeigte dann auf, welche Wirkungen der EMRK und der diese konkretisierenden Rechtsprechung des EGMR auf das innerstaatliche Recht zukommen.
Sodann ging er auf die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zum Streikrecht auf Grund der EMRK ein. Im Urteil vom 31.01.2012 hatten die Straßburger Richter in Sachen Sindicatul „Păstorul cel Bun“ ./. Rumänien (Nr. 2330/09) entschieden, dass die Untersagung einer Gewerkschaftsbildung rumänisch-orthodoxer Priester gegen die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 EMRK verstoße. Letztlich richte sich dieses Urteil zwar nur gegen den Staat Rumänien und verpflichte diesen zur Beseitigung der konventionswidrigen Umstände. Zudem entscheide der EGMR stets nur Einzelfälle, wie auch in Sachen „Enerji Yapi-Yol Sen ./. Türkei“ vom 21.04.2009 (Nr. 68959/01), wo die absolute Beschränkung des Streikrechts gegenüber allen öffentlich Beschäftigten im türkischen Staatsdienst für nicht vereinbar mit Art. 11 EMRK erklärt wurde. So könne ein Analogieschluss im Hinblick auf die Aufhebung des Streikverbots in kirchlichen Einrichtungen nicht ganz einfach erfolgen. Doch wäre es vertretbar, für die deutschen kirchlichen Arbeitsverhältnisse einen Streik nur dann für unzulässig zu halten, wenn wirklich ein funktionierendes Kommissionensystem bestehe. Würde der EGMR jedoch ein Streikrecht bejahen, wären die nationalen Gerichte im Wege des Gebots der völkerrechtsfreundlichen Auslegung gehalten, dies zu akzeptieren.
Kollektive Arbeitskämpfe im kirchlichen Bereich – empirische Befunde und Analysen
Der zweite Referent, Dr. Hermann Lührs (Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen), sprach über „Kollektive Arbeitskämpfe im kirchlichen Bereich – empirische Befunde und Analysen“. Er zeigte zunächst auf, dass kollektiv geführte Arbeitskonflikte in kirchlichen Einrichtungen der Diakonie und Caritas ein „neues Phänomen“ seien, welches erst seit ca. zehn Jahren existiere. Dies belegte er anhand von Beispielen aus der Praxis. Grund hierfür sei der „Paradigmenwechsel“, der sich seit den 1990-er Jahren im Sozialsektor vollzogen habe. Hatten die Kommissionen ursprünglich die Aufgabe der Koordinierung, käme ihnen nunmehr jene der Konfliktregulierung zu.
Die Parität im Sinne einer gleich starken Interessenvertretung beruhe nämlich auf einem „geschlossenen System“, in welchem insbesondere die Unabhängigkeit der Mitglieder gewahrt bleiben müsse. Dies erachtete Lührs als großes Problem. Die Geschlossenheit des Systems sei heute als solche nicht mehr sichergestellt, da Entscheidungen zunehmend von den Trägern großer Einrichtungen getroffen würden, also von „außen“ bestimmt würden. Insgesamt „trage“ das Kommissionensystem daher nicht mehr. Die „grauen“ Streiks innerhalb des Dritten Weges zur Beeinflussung von Kommissionsentscheidungen äußerten nämlich destabilisierende Effekte für ein geschlossenes System, das die Kollektivautonomie der in Diakonie und Caritas abhängig Beschäftigten negiere.
Abwägungslinien zwischen kirchlicher Selbstbestimmung und Koalitionsfreiheit
Im Anschluss daran sprach Privatdozent Dr. Christian Traulsen (Universität Tübingen) zum Thema „Abwägungslinien zwischen kirchlicher Selbstbestimmung und Koalitionsfreiheit“. Der Dritte Weg beruhe auf einer Abwägungsentscheidung zwischen dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und dem staatlichen Arbeitsrecht. Das Ergebnis dieser Abwägung zu Gunsten der Kirchen setze voraus, dass der Dritte Weg glaubhaft praktiziert werde. Nachdem Traulsen die Methode der Abwägung im kirchlichen Arbeitsrecht als „hochgradig abstrakt“ deklariert und den Einfluss der Rechtsprechung des EGMR auf das kirchliche Arbeitsrecht aufgezeigt hatte, nannte er zwei Modifikationen, die das deutsche Abwägungsmodell aus konventionsrechtlicher Sicht erfahren werde: Zum einen bedürfe es einer umfassenden Einzelfallabwägung, zum anderen müsse die zu einseitige Betonung des kirchlichen Selbstverständnisses vermieden werden. Deshalb kam er zu dem Ergebnis, dass ein ausnahmsloses und undifferenziertes Streikverbot einer differenzierten und einzelfallbezogenen Abwägung, wie sie der EGMR fordere, nicht standhalten werde. Den Kirchen stellte er anheim, ihr Selbstverständnis für kollektive Maßnahmen „innerhalb des Kommissionssystems“ zu öffnen, um so einer Fremdbestimmung durch die weltlichen Gerichte vorzubeugen.
Wege zu einem Streik zur Systemstabilisierung im Dritten Weg
In seinem Schlussvortrag zeigte Reichold „Wege zu einem Streik zur Systemstabilisierung im Dritten Weg“ auf. Auch im kirchlichen Bereich müsse zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern die Möglichkeit einer „Verhandlung auf Augenhöhe“ bestehen. Wo dies nicht (mehr) möglich sei, müssten Arbeitsniederlegungen stattfinden können. Derartige Streikbemühungen zielten bislang in diakonischen Einrichtungen vornehmlich auf eine Überwindung des Kommissionensystems des Dritten Wegs ab. Sollte das BAG in der anstehenden Entscheidung am 20.11.2012 ein Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen bejahen, wäre der Systemwechsel letztlich eine Frage der „normativen Kraft der faktischen Streikbereitschaft und -macht in der jeweiligen Einrichtung“. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht wäre dann für die privatrechtlichen Einrichtungen der Kirchen nur mehr „Makulatur“.
Da auch Reichold davon ausgeht, dass sich ein undifferenziertes Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen angesichts der konventionsrechtlichen Rechtsprechung des EGMR wohl nicht länger halten lasse, zeigte er Wege zu einem systemstabilisierenden Streik innerhalb des Dritten Wegs auf. Dies setze eine Öffnung des Kommissionsverfahrens voraus. Stelle eine „tarifpolitisch“ relevante Forderung eine derart wesentliche Regelungsfrage dar, dass sie – zur Wahrung der politischen Optionen der Akteure – einer ersetzenden Zwangsschlichtung nicht zugänglich sei, könnten die beiden Seiten der Arbeitsrechtlichen Kommission den Schlichterspruch annehmen oder ablehnen. Diese obligatorische „Tarifschlichtung“ ohne Unterwerfung eröffne den Weg zum Streik, sofern bei einer Ablehnung des Entscheids 75% der betroffenen Dienstnehmer in der jeweiligen Einheit (z.B. AGMAV Württemberg) dafür votierten. Bei der Durchführung des Streiks sei neben dem Verhältnismäßigkeitsprinzip selbstredend auch der kirchliche (Versorgungs-)Auftrag zu wahren.
Abschlussdiskussion
Dem Charakter eines „Symposions“ gerecht wurde die lebhaft und kontrovers geführte Diskussion, bei der die unterschiedlichen Positionen nochmals verdeutlicht wurden. Eine Mehrzahl von Teilnehmern hielt auch den „systemkonformen“ Streik nicht für vereinbar mit dem Auftrag der kirchlichen Dienstgemeinschaft. Als Konsens konnte aber festgestellt werden, dass der Grundsatz vom Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen spätestens vor dem EGMR kein „eherner“ mehr sein werde. Dies stieß bei einigen Kirchenvertretern zwar auf Widerstand. Dass jedoch die Möglichkeit, auch innerhalb des Dritten Weges zu streiken, nicht automatisch dessen Ende bedeutete, war eine der weiterführenden Erkenntnisse des ersten Symposions der Forschungsstelle kirchliches Arbeitsrecht.
Anmerkung der Redaktion
Elisabeth Hartmeyer ist Wiss. Angestellte am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht von Prof. Dr. Hermann Reichold und Geschäftsführerin der Forschungsstelle kirchliches Arbeitsrecht.
Der Beitrag ist zunächst in den Internetseiten der Eberhard Karls Universität Tübingen erschienen. Herzlichen Dank an Elisabeth Hartmeyer für die Möglichkeit, ihn hier in redigierter Fassung zu veröffentlichen!
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