BayVerfGH: Einzelne Vorschriften des Bayerischen Integrationsgesetzes verfassungswidrig

Die gesetzliche Verpflichtung, die in der Präambel des Bayerischen Integrationsgesetzes definierte „Leitkultur“ in Rundfunk- und Telemedienangeboten zu vermitteln, verletzt die Rundfunkfreiheit und das Recht der freien Meinungsäußerung. Die Befugnis der Sicherheitsbehörden, Personen allein auf Grund einer bestimmten Einstellung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu einem Grundkurs über deren Werte zu verpflichten, stellt ebenfalls einen unzulässigen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar. Die im Gesetz vorgesehene Bußgeldsanktion bei Aktivitäten, die auf eine Ersetzung der bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung durch eine andere Rechtsordnung abzielen, verstößt gegen die abschließende bundesgesetzliche Regelung des strafrechtlichen Staatsschutzes. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind dagegen die weiteren von den antragstellenden Fraktionen angegriffenen Vorschriften.

I. Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:

1. Das Bayerische lntegrationsgesetz wurde auf der Grundlage eines Entwurfs der Bayerischen Staatsregierung am 09.12.2016 vom Bayerischen Landtag mit den Stimmen der CSU-Fraktion gegen die Stimmen der übrigen Landtagsfraktionen beschlossen; es ist im Wesentlichen am 01.01.2017 in Kraft getreten. Dem Gesetz ist eine Präambel vorangestellt, in welcher der Begriff der „Leitkultur“ definiert wird. In Art. 1 BayIntG werden allgemeine lntegrationsziele für Migrantinnen und Migranten formuliert; die nachfolgenden Bestimmungen enthalten dazu Regelungen für eine Vielzahl von Lebensbereichen. Durch Art. 17a BayIntG wurden auch einige bestehende Gesetze geändert.

2. Antragsteller sind die Landtagsfraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen.

Die SPD-Fraktion wendet sich gegen sechs Einzelbestimmungen des Bayerischen lntegrationsgesetzes. Sie hält das in Art. 1 Satz 2 als lntegrationspflicht bezeichnete Gesetzesziel, die aus anderen Staaten nach Bayern kommenden Menschen zur Achtung der Leitkultur zu verpflichten und ihnen eigene Integrationsanstrengungen abzuverlangen, für einen unzulässigen Eingriff in den privaten Lebensbereich. Durch die Regelungen des Art. 4 Abs. 4 über die Verpflichtung nicht deutschsprachiger Personen zur Tragung von Dolmetscherkosten in Verwaltungsverfahren und über den Ausschluss der Amtshaftung bei Übersetzungsfehlern würden rechtsstaatliche Mindestanforderungen missachtet. Die den Kindertageseinrichtungen in Art. 6 Satz 1 auferlegte Verpflichtung, allen Kindern zentrale Elemente der christlich-abendländischen Kultur zu vermitteln, greife unzulässigerweise in die Glaubensfreiheit und das elterliche Erziehungsrecht ein. Art. 11 Satz 2, wonach die Angebote in Rundfunk und Telemedien einen Beitrag zur Vermittlung der Leitkultur leisten sollten, verstoße gegen die als Bestandteil der Rundfunkfreiheit geschützte Programmfreiheit. Die durch Art. 13 ermöglichte Verpflichtung zur Teilnahme an einem Grundkurs über die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bei Personen, die ihre Ablehnung, Unkenntnis oder Gleichgültigkeit gegenüber der Rechts- und Werteordnung bekundet hätten, sei tatbestandlich nicht hinreichend bestimmt und überschreite die Grenze zum Gesinnungsstrafrecht. Das in Art. 14 normierte bußgeldbewehrte Verbot des Unterlaufens der verfassungsmäßigen Ordnung sei ebenfalls zu unbestimmt und verstoße zudem gegen die bundesstaatliche Ordnung, da der Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung bereits abschließend im Strafgesetzbuch geregelt sei.

Die Fraktion „Bündnis 90/Die Grünen“ wendet sich gegen die Präambel sowie gegen Art. 1 bis 11, 13, 14, 17a Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 5 bis 12 BayIntG. Das Gesetz sei insgesamt kompetenzwidrig ergangen, da die Fragen der Integration von Ausländern bundesrechtlich abschließend geregelt seien. Mit dem lntegrationskonzept des Bundesgesetzgebers sei die Orientierung an einer landesgesetzlich vorgegebenen Leitkultur unvereinbar. Gegen das Rechtsstaatsprinzip der Bayerischen Verfassung werde verstoßen, weil die Anforderungen des Zitiergebots bei Grundrechtseingriffen nicht gewahrt seien und weil der Begriff der Leitkultur und der Inhalt der lntegrationspflicht nicht ausreichend bestimmt seien. Die Verpflichtung der Migrantinnen und Migranten zur unabdingbaren Achtung der Leitkultur stehe im Widerspruch zur staatlichen Gemeinwohl- und Neutralitätsverpflichtung. Das Grundrecht der Rundfunkfreiheit werde durch Art. 11 Satz 2 verletzt, da der darin enthaltene Auftrag zur Vermittlung einer bestimmten Leitkultur der verfassungsrechtlich gebotenen Programmvielfalt widerspreche. Die nach Art. 13 mögliche Verpflichtung zur Teilnahme an einem Grundkurs über die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung greife unzulässigerweise in die Meinungsfreiheit ein, da weder die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm noch Inhalt und Umfang des Grundkurses im Gesetz hinreichend bestimmt seien. Auch die Verbotstatbestände des Art. 14 Abs. 1 entsprächen nicht den dafür geltenden erhöhten Bestimmtheitsanforderungen. Die durch Art. 17a Abs. 1 Nr. 5 in das Polizeiaufgabengesetz (PAG) neu aufgenommene Befugnis der Polizei zum Betreten von Asylbewerberunterkünften verletze das Wohnungsgrundrecht, da sie keine konkrete Gefahr voraussetze, sondern die betreffenden Unterkünfte per se zu gefährlichen Orten erkläre. Nicht hinreichend konkretisiert sei der durch Art. 17a Abs. 7 und 8 in das Wohnungsbindungsrecht neu aufgenommene Begriff der einseitigen Bewohnerstruktur. Die mit Art. 17a Abs. 11 ermöglichte Verpflichtung von Strafgefangenen, wegen eines lntegrationsdefizits an einem lntegrationsunterricht teilzunehmen, verstoße gegen die Freiheit der Person und gegen den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Auch die Regelungen über eine freiwillige Teilnahme an solchen lntegrationskursen wirkten faktisch wie eine Verpflichtung und seien an der allgemeinen Handlungsfreiheit zu messen; sie dienten keinem legitimen Zweck und seien daher unverhältnismäßig.

3. Die CSU-Landtagsfraktion und die Bayerische Staatsregierung als Antragsgegnerinnen sowie der Bayerische Landtag halten die Anträge für unbegründet.

II. Der BayVerfGH hat den Anträgen der Landtagsfraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen am 03.12.2019 teilweise stattgegeben:

Die gesetzliche Verpflichtung, die in der Präambel des Bayerischen Integrationsgesetzes definierte „Leitkultur“ in Rundfunk- und Telemedienangeboten zu vermitteln, verletzt die Rundfunkfreiheit und das Recht der freien Meinungsäußerung. Die Befugnis der Sicherheitsbehörden, Personen allein auf Grund einer bestimmten Einstellung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu einem Grundkurs über deren Werte zu verpflichten, stellt ebenfalls einen unzulässigen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar. Die im Gesetz vorgesehene Bußgeldsanktion bei Aktivitäten, die auf eine Ersetzung der bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung durch eine andere Rechtsordnung abzielen, verstößt gegen die abschließende bundesgesetzliche Regelung des strafrechtlichen Staatsschutzes.

Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind dagegen die weiteren von den antragstellenden Fraktionen angegriffenen Vorschriften. Dazu gehören insbesondere die Bestimmungen über die mit dem Gesetz verfolgten Integrationsziele, über die allgemeinen Grundsätze der Integrationsförderung, über die Kostenerstattung und Dolmetscherhaftung bei Übersetzungen im Verwaltungsverfahren, über die Bildungsinhalte in Kindertagesstätten und über das Betretungsrecht der Polizei bei Asylunterkünften.

Wegen des teilweisen Erfolgs der Anträge sind nach der Entscheidung des BayVerfGH der SPD-Fraktion die Hälfte und der Fraktion „Bündnis 90/Die Grünen“ ein Viertel der Verfahrenskosten aus der Staatskasse zu erstatten.

Zu der Entscheidung im Einzelnen:

1. Soweit die Antragstellerinnen geltend machen, Regelungen im Bayerischen Integrationsgesetz verstießen gegen vorrangiges Bundesrecht und damit aus landesverfassungsrechtlicher Sicht gegen das Gebot der Rechtsstaatlichkeit (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV), ist dem nur hinsichtlich des Art. 14 Abs. 2 BayIntG zu folgen; im Übrigen sind diese Rügen unbegründet.

a) Die in Art. 1 Satz 2 Halbs. 2 BayIntG als Gesetzesziel neben der Integrationsförderung genannte „Integrationspflicht“ ist von der dem Landesgesetzgeber nach Art. 70 Abs. 1, Art. 72 Abs. 1 GG zustehenden Gesetzgebungskompetenz gedeckt. Ihr stehen keine abschließenden bundesrechtlichen Regelungen entgegen.

Zwar eröffnet das Grundgesetz dem Bundesgesetzgeber konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeiten für das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht von Ausländern (Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 GG) sowie für die Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 6 GG). Hiervon hat er insbesondere durch den Erlass des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) Gebrauch gemacht. Geregelt wird dort neben der Einreise, dem Aufenthalt und der Erwerbstätigkeit von Ausländern auch deren „Integration“ (§ 1 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Die Integration von Ausländern stellt jedoch keine allein im Ausländer-, Flüchtlings- und Staatsangehörigkeitsrecht wurzelnde einheitliche Sachmaterie dar, die der Bundesgesetzgeber umfassend regeln könnte. Es handelt sich vielmehr um eine staatliche Querschnittsaufgabe, die von Bund und Ländern nach Maßgabe der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung gemeinsam zu erfüllen ist und bei der den Bundesländern z.B. im Bereich der Bildung, der Kultur, des Rundfunks und des allgemeinen Sicherheitsrechts eigene Gesetzgebungsbefugnisse zustehen, die dem bundesrechtlichen Zugriff entzogen sind.

Der Zweck des Bayerischen Integrationsgesetzes liegt nach Satz 14 der Präambel darin, die in den vorherigen Sätzen umschriebene, als „Leitkultur“ bezeichnete kulturelle Grundordnung zu wahren, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern sowie Migrantinnen und Migranten zu einem Leben in der Gesellschaft zu befähigen; Ziel des Gesetzes ist es dabei auch, den genannten Personenkreis zur Achtung der „Leitkultur“ zu verpflichten (Art. 1 Satz 2 Halbs. 2 BayIntG). Ob dieses in Gesetzesform gefasste landesrechtliche Integrationskonzept mit den integrationspolitischen Grundvorstellungen des Bundesgesetzgebers kompatibel ist, kann dahinstehen. Denn selbst wenn sich eine Unvereinbarkeit feststellen ließe, läge darin kein Verstoß gegen das aus dem bundesstaatlichen Rücksichtnahmegebot sowie dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. Dieses Gebot verpflichtet die Länder nicht, bei ihrer Gesetzgebungstätigkeit nur solche konzeptionellen Ansätze zu verfolgen, die denen des Bundesgesetzgebers entsprechen.

b) Die in Art. 14 Abs. 2 BayIntG vorgesehene Bußgeldsanktion für die Verbote, in öffentlicher Form dazu aufzufordern, statt der geltenden verfassungsmäßigen Ordnung einer mit deren Grundsätzen nicht zu vereinbarenden anderen Rechtsordnung zu folgen (Abs. 1 Nr. 1), es zu unternehmen, andere Personen einer solchen Ordnung zu unterwerfen (Abs. 1 Nr. 2), oder eine solche Ordnung oder aus ihr abgeleitete Einzelakte zu vollziehen oder zu vollstrecken (Abs. 1 Nr. 3), ist hingegen mit vorrangigem Bundesrecht unvereinbar. Die in Bund und Ländern bestehende verfassungsmäßige Ordnung wird bereits im StGB durch Bundesrecht in abschließender Weise strafrechtlich geschützt. Dass daneben noch Spielraum für ergänzende ordnungswidrigkeitenrechtliche Sanktionen auf Länderebene verbleiben sollte, erscheint in Anbetracht des umfassenden Regelungsanspruchs des Strafgesetzgebers von vornherein ausgeschlossen. Die Länder sind nicht berechtigt, eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz dort in Anspruch zu nehmen, wo sie eine – abschließende – Bundesregelung für unzulänglich halten; das Grundgesetz weist ihnen nicht die Aufgabe zu, kompetenzgemäß getroffene Entscheidungen des Bundesgesetzgebers „nachzubessern“. Der Widerspruch gegen die bundesstaatliche Kompetenzordnung ist so offenkundig und schwerwiegend, dass darin zugleich eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips der Bayerischen Verfassung liegt.

c) Dagegen wird das Rechtsstaatsprinzip nicht dadurch verletzt, dass die auf Grund der angegriffenen Vorschriften möglichen Grundrechtseinschränkungen nicht einzeln im textlichen Zusammenhang mit den jeweiligen Eingriffsnormen, sondern erst in der zusammenfassenden Vorschrift des Art. 18 BayIntG (Art. 17 BayIntG n.F.) erwähnt werden.

2. Soweit die Antragstellerinnen die Verfassungswidrigkeit einzelner Bestimmungen des Bayerischen Integrationsgesetzes unabhängig von ihrer Vereinbarkeit mit Bundesrecht rügen, haben die Anträge teilweise Erfolg.

a) Die Präambel zum Bayerischen Integrationsgesetz verstößt nicht gegen die Bayerische Verfassung. Mit dieser Präambel wird, wie aus ihrem abschließenden Satz 14 hervorgeht, der Zweck des Bayerischen Integrationsgesetzes erläutert. Dieser besteht darin, die in den Sätzen 1 bis 12 im Einzelnen umschriebene und in Satz 13 als „Leitkultur“ apostrophierte kulturelle Grundordnung der Gesellschaft zu wahren sowie „den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern und Migrantinnen und Migranten zu einem Leben in unserer Gesellschaft zu befähigen“. Der hohe Abstraktionsgrad dieser Zielvorstellungen macht deutlich, dass die Präambel kein unmittelbar anwendbares Recht darstellt und insbesondere keine subjektiven Rechte oder Pflichten begründet, sondern – im Stil einer Gesetzesbegründung – lediglich deskriptive, appellative und programmatische Aussagen trifft, die der Umsetzung durch konkrete, vollzugsfähige Normen bedürfen. Auch die Legaldefinition der „Leitkultur“ unterliegt daher der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nur insoweit, als in einzelnen Regelungen des Bayerischen Integrationsgesetzes darauf Bezug genommen wird.

b) Gegen die einleitende Bestimmung des Art. 1 BayIntG („Integrationsziele“) bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Mit ihr werden den Migrantinnen und Migranten keine eigenständigen rechtlichen Verpflichtungen auferlegt, die an den Grundrechten der Bayerischen Verfassung zu messen wären. Insbesondere folgt aus dieser allgemeinen Zielvorschrift nicht das Gebot, die in der Präambel aufgezählten kulturellen Grundwerte für die eigene Person als verbindlich anzuerkennen und das individuelle Verhalten daran auszurichten.

c) Die Bestimmungen des Art. 3 BayIntG („Allgemeine Integrationsförderung“) sind ebenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Vorschrift enthält, wie sich aus der amtlichen Überschrift und dem Regelungsauftrag in Absatz 9 ergibt, keine unmittelbar vollziehbaren Rechtssätze, sondern allgemeine Vorgaben für Fördermaßnahmen, die nach Maßgabe gesonderter Richtlinien und unter dem Vorbehalt haushaltsrechtlicher Mittelbewilligung erfolgen sollen und aus denen sich nach Art. 17 BayIntG (Art. 16 BayIntG n.F.) keinerlei Rechtsansprüche ergeben. Der Verweis auf die für den Freistaat Bayern gesetzlich definierte „Leitkultur“ führt nicht deshalb zu einem Konflikt mit dem Gemeinwohlauftrag des Art. 3 Abs. 1 Satz 2 BV, weil damit entgegen der staatlichen Neutralitätspflicht eine in Bayern vorherrschende weltanschaulich-religiöse Grundhaltung als allgemeinverbindliche Norm vorgegeben oder die Übernahme der Wertvorstellungen einer bestimmten (Mehrheits-)Kultur als Rechtspflicht ausgestaltet würde. Einer solchen Auslegung im Sinn eines (unzulässigerweise) auf vollständige Assimilation gerichteten Integrationskonzepts steht bereits die Feststellung in Art. 3 Abs. 4 Satz 1 BayIntG entgegen, wonach gelingende Integration der gegenseitigen Rücksichtnahme und Toleranz sowie des Respekts vor der Einzigartigkeit, der Lebensgeschichte und den Prägungen des jeweils anderen bedarf. Dass die staatlichen Behörden gem. Art. 3 Abs. 8 BayIntG im Rahmen der geltenden Gesetze auch darauf hinarbeiten, der in der Präambel legaldefinierten „Leitkultur“ Respekt und Akzeptanz zu verschaffen und den zu fördernden Migrantinnen und Migranten – in Form einer Obliegenheit – eigene Integrationsanstrengungen abzuverlangen, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Der Staat darf bei seinen Maßnahmen zur Integrationsförderung ein durch demokratische Mehrheitsentscheidung legitimiertes Gesamtkonzept verfolgen.

d) Dass nach Art. 4 Abs. 4 Satz 1 BayIntG die notwendigen Kosten eines von einer Behörde herangezogenen Dolmetschers oder Übersetzers einem Volljährigen auferlegt werden können, der innerhalb der letzten sechs Jahre mindestens drei Jahre ständig im Bundesgebiet gelebt hat, stellt einen Eingriff in die durch Art. 101 BV geschützte allgemeine Handlungsfreiheit dar. Mit der Vorschrift wird aber, da sie eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zum Erwerb von Sprachkenntnissen motivieren soll, ein legitimer integrationspolitischer Zweck verfolgt, der die Kostentragungspflicht zu rechtfertigen vermag. Zwar gehört es zu den Geboten der Fairness, bei Verfahrensbeteiligten, die über keine ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen, auf die Dienste von Dolmetschern oder Übersetzern zurückzugreifen, wenn dies zur Wahrung des rechtlichen Gehörs oder zur Ausübung sonstiger Verfahrensrechte erforderlich ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass die damit verbundenen Kosten in jedem Fall von der öffentlichen Hand zu tragen wären. Da die Auferlegung der Dolmetscher- und Übersetzerkosten stets eine Ermessensentscheidung voraussetzt, haben die Behörden den nötigen Spielraum, um möglichen völker-, unions- oder bundesrechtlichen Vorgaben Rechnung zu tragen und individuelle Umstände zu berücksichtigen.

Ebenso wenig zu beanstanden ist die in Art. 4 Abs. 4 Satz 2 BayIntG getroffene Ausnahmeregelung, wonach bei fehlerhaften Übersetzungen Haftungsansprüche gegen die Körperschaft ausgeschlossen sind, deren Behörde den Dolmetscher oder Übersetzer im Einzelfall herangezogen hat. Dies lässt sich damit rechtfertigen, dass den Sprachmittlern eine vergleichsweise selbstständige Stellung zukommt, die ihre haftungsrechtliche Zuordnung erschwert.

e) Die in Art. 6 BayIntG („Frühkindliche Bildung“) enthaltene gesetzliche Vorgabe, wonach alle Kinder in Kindertageseinrichtungen zentrale Elemente der christlich-abendländischen Kultur erfahren sollen (Satz 1), verstößt bei zutreffendem Normverständnis ebenfalls nicht gegen die Bayerische Verfassung. Sie ist nicht darauf gerichtet, den Kindern religiöse Erfahrungen zu vermitteln und ihnen damit spezifisch christliche Glaubensinhalte nahezubringen. Das Attribut „christlich“ meint jene Werte und Normen, die zwar maßgeblich vom Christentum geprägt sind, heute aber zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises gehören und daher unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beanspruchen. Das Wort „abendländisch“ verweist dabei auf die durch den Humanismus und die Aufklärung beeinflussten Grundwerte der westlichen Welt, zu denen nicht zuletzt religiöse Vielfalt und weltanschauliche Toleranz gehören. Ein unzulässiger Eingriff in die durch Art. 107 Abs. 1 BV geschützte negative Glaubensfreiheit und das elterliche Erziehungsrecht gem. Art. 126 Abs. 1 Satz 1 BV ist damit nicht verbunden. Aus Art. 130 Abs. 1 BV lässt sich die Befugnis ableiten, die Träger der Kindertageseinrichtungen auf die im Rahmen ihres Bildungsauftrags zu verfolgenden pädagogischen Grundsätze und Erziehungsziele gesetzlich festzulegen.

f) Die aus der Soll-Bestimmung des Art. 11 Satz 2 BayIntG folgende grundsätzliche Verpflichtung, mit den Rundfunkangeboten zur Vermittlung der „Leitkultur“ beizutragen, greift in das Recht des Bayerischen Rundfunks und der übrigen an der Veranstaltung von Rundfunk Beteiligten ein, über den Inhalt ihrer Programme nach eigenen Vorstellungen zu entscheiden. Ihnen wird aufgegeben, die in den Sätzen 1 bis 12 der Präambel getroffenen Aussagen und Einschätzungen in ihren Sendungen zu „vermitteln“, also den Rezipienten näherzubringen. Eine solche Pflicht zur positiven Förderung bestimmter Wert- und Zielvorstellungen im Sinn einer „kulturellen Grundordnung der Gesellschaft“ (Satz 13 der Präambel) ist mit der den öffentlichen Rundfunkanstalten und den privaten Rundfunkanbietern zustehenden Programmfreiheit unvereinbar. Die Regelung dient nicht der funktionsgerechten Ausgestaltung der Rundfunkordnung und ist auch nicht Ausdruck einer verfassungsimmanenten Beschränkung der Rundfunkfreiheit, wie dies etwa für die in Art. 11 Satz 2 BayIntG ebenfalls geforderte Vermittlung der deutschen Sprache in Anbetracht des Bildungsauftrags in Art. 111a Abs. 1 Satz 3 BV angenommen werden kann. Das Gebot, ein bestimmtes Verständnis von „Leitkultur“ zu propagieren, macht den Rundfunk insoweit zu einem Sprachrohr des parlamentarischen Gesetzgebers, der diesem Begriff im Bayerischen Integrationsgesetz einen spezifischen Bedeutungsgehalt beigemessen hat. Darin liegt ein Verstoß gegen den aus Art. 111a BV abzuleitenden Grundsatz der Staatsferne des Rundfunks.

g) Art. 13 BayIntG („Achtung der Rechts- und Werteordnung“), wonach die Sicherheitsbehörden befugt sind, bußgeldbewehrte Verpflichtungen zur Teilnahme an einem Grundkurs über die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auszusprechen, verstößt gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 110 Abs. 1 Satz 1 BV).

Denn danach kann zur Kursteilnahme jeder verpflichtet werden, der durch sein Verhalten die Ablehnung bestimmter Regeln, Prinzipien und Werte „zum Ausdruck bringt“ (Art. 13 Abs. 1 BayIntG) oder „erkennen lässt“, dass ihm diese unbekannt oder gleichgültig sind (Art. 13 Abs. 2 BayIntG). Die Anordnungsbefugnis der Behörde setzt hiernach eine – von einem normativen Leitbild abweichende – persönliche Grundeinstellung voraus, die bereits nach außen kommuniziert worden ist. Wer durch öffentliche Äußerungen oder demonstrative Handlungen seine Gegnerschaft, seine Ignoranz oder sein Desinteresse gegenüber der in Art. 13 Abs. 1 und 2 BayIntG beschriebenen Rechts- und Werteordnung bekundet, läuft Gefahr, wegen dieser negativen Haltung einen Grundkurs über die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung absolvieren zu müssen. Den Bestimmungen kann aber nicht mit hinreichender Klarheit entnommen werden, welches individuelle Verhalten vorliegen muss, damit die Sicherheitsbehörden von ihrer Eingriffsbefugnis Gebrauch machen können. Unklar ist vor allem, ob mit dem Begriff des „Regelverstoßes“ nur eine Verletzung rechtlicher Regelungen gemeint ist oder ob dieses Tatbestandsmerkmal auch eine Missachtung ungeschriebener sozialer Normen erfasst, wie sie etwa im sicherheitsrechtlichen Schutzgut der öffentlichen Ordnung enthalten sind oder sich aus allgemein anerkannten Gebräuchen ergeben können.

Art. 13 BayIntG erweist sich auch als unverhältnismäßig, da der damit verbundene Eingriff in die Meinungsfreiheit nicht in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Regelungszweck steht. Die Verpflichtung zur Kursteilnahme zielt nicht vorrangig auf die Vermeidung eines befürchteten (erneuten) Fehlverhaltens, sondern auf einen generellen Gesinnungswandel hin zu einer positiveren Haltung gegenüber den Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die beabsichtigte geistige Einflussnahme greift, auch wenn sie letztlich nur appellativen Charakter trägt, in innerpsychische Vorgänge der Meinungsbildung ein, die für das individuelle Selbstverständnis besonders bedeutsam sind. Darüber hinaus liegt in der Vorschrift ein gewichtiger faktischer Eingriff in das Recht, seine Meinung frei äußern zu können. Denn schon das Wissen um die Existenz einer sicherheitsrechtlichen Befugnisnorm, die an die Bekundung bestimmter Meinungsinhalte anknüpft, kann den einzelnen Grundrechtsträger hindern, seine Ansichten zu den betreffenden Themen unbefangen preiszugeben. Die bloß allgemeine Befürchtung, eine von einzelnen Personen durch Worte oder Taten zum Ausdruck gebrachte Missachtung der geltenden Rechts- und Werteordnung oder einzelner ihrer Elemente könne irgendwann einmal in verfassungsfeindlichen oder allgemein rechtsstaatswidrigen Aktivitäten ihren Niederschlag finden, rechtfertigt keine derart schwerwiegenden Eingriffe in das Grundrecht der Meinungsfreiheit.

h) Die Verbotsnorm des Art. 14 Abs. 1 BayIntG („Unterlaufen der verfassungsmäßigen Ordnung“), die auch ohne die kompetenzwidrige Bußgeldbewehrung des Art. 14 Abs. 2 BayIntG (s.o.) polizeirechtlich durchgesetzt werden kann, ist mit der Bayerischen Verfassung vereinbar. Sie setzt die Missachtung der geltenden verfassungsmäßigen Ordnung durch eine sich u.a. in einer öffentlichen Aufforderung manifestierende Hinwendung zu einer anderen Rechtsordnung voraus. Anders als die von Art. 13 BayIntG erfassten Meinungsäußerungen stellt das in Art. 14 Abs. 1 Nr. 1 BayIntG beschriebene Verhalten nicht eine bloße Gesinnungsbekundung dar, die dem unmittelbaren staatlichen Zugriff entzogen wäre. In der gegenüber Dritten ergehenden Aufforderung, statt der bestehenden Ordnung einer anderen Rechtsordnung Folge zu leisten, liegt eine Anstiftung zum Rechtsbruch; dies kann das Vertrauen der rechtstreuen Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts erschüttern, die eine Grundvoraussetzung für den Fortbestand der Rechtsordnung bildet. Angesichts dieser naheliegenden Gefährdungslage, die sich aus dem Inhalt der betreffenden Äußerungen ergibt, kann das darauf bezogene Verbot nicht als ein unverhältnismäßiger Grundrechtseingriff angesehen werden. Erst recht gilt dies für die in Art. 14 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 BayIntG normierten Verbote. Die (versuchte oder vollendete) Unterwerfung anderer Personen unter eine mit der geltenden Verfassungsordnung nicht zu vereinbarende andere Rechtsordnung und deren faktische Vollziehung bzw. Vollstreckung im Einzelfall missachten das staatliche Rechtsetzungs- und Gewaltmonopol in so gravierender Weise, dass das strikte Verbot dieses Verhaltens als zumutbare Freiheitsbeschränkung betrachtet werden muss.

i) Die Änderungsvorschrift des Art. 17a Abs. 1 Nr. 5 BayIntG, wonach die Polizei über den bisherigen Anwendungsbereich des Art. 23 Abs. 3 PAG hinaus befugt ist, zur Abwehr dringender Gefahren Wohnungen zu betreten, wenn diese als Unterkunft oder dem sonstigen, auch vorübergehenden Aufenthalt von Asylbewerbern und unerlaubt Aufhältigen dienen (Art. 23 Abs. 3 Nr. 3 PAG), ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der darin liegende Eingriff in das Wohnungsgrundrecht (Art. 106 Abs. 3 BV) ist durch den mit der Befugnisnorm verfolgten Schutzzweck gerechtfertigt. Erlaubt ist das Betreten der Wohnungen nicht etwa deshalb, weil bei dem betroffenen Personenkreis schon wegen der Tatsache des Wohnens ein polizeiliches Eingreifen notwendig wäre. Die Polizei darf von der Betretungsbefugnis vielmehr nur im Einzelfall zur Abwehr dringender Gefahren Gebrauch machen, so dass ein unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten hinreichend konkreter Anlass für die Eingriffsmaßnahme gewährleistet ist. Das zwingende Erfordernis einer situationsbezogenen Konkretisierung der Gefahrenlage darf in der behördlichen Vollzugspraxis nicht dadurch überspielt werden, dass bei den in Art. 23 Abs. 3 PAG genannten Wohnungen von einer (auf Grund polizeilicher Erfahrung) generell anzunehmenden dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgegangen wird. Auch das Bedürfnis, gegenüber den Personen, die sich in einer solchen Wohnung aufhalten, die Befugnis zur Identitätsfeststellung nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 lit. c PAG auszuüben, rechtfertigt allein noch nicht den Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung.

j) Mit der Bayerischen Verfassung vereinbar sind auch die in Art. 17a Abs. 7 und 8 BayIntG enthaltenen Änderungen des Bayerischen Wohnungsbindungsgesetzes und der Durchführungsverordnung zum Wohnungsrecht. Die geänderten bzw. neu eingefügten Bestimmungen sehen vor, dass die für die Zuweisung öffentlich geförderter Wohnungen zuständigen Stellen neben der Dringlichkeit des individuellen Wohnbedarfs auch eine auf die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung bezogene „Strukturkomponente“ zu berücksichtigen haben. Die Vorgabe, dass einseitige Bewohnerstrukturen vermieden werden sollen, ist ausreichend bestimmt, zumal sie zum Bereich der Leistungsverwaltung gehört und der Vorbehalt des Gesetzes daher nicht in gleicher Weise gilt wie für die Eingriffsverwaltung.

k) Die in Art. 17a Abs. 9 bis 12 BayIntG enthaltenen, nicht auf Personen mit Migrationshintergrund beschränkten Vorschriften über die Teilnahme an einem Deutsch- oder Integrationsunterricht in bestimmten staatlichen Einrichtungen verstoßen nicht gegen die Bayerische Verfassung. Die Regelungen, nach denen Sicherungsverwahrte, volljährige Untersuchungsgefangene und Personen, die in einer Maßregelvollzugseinrichtung untergebracht sind, dazu angehalten werden sollen, freiwillig an einem in der Anstalt angebotenen Deutsch- bzw. Integrationsunterricht teilzunehmen, können schon nicht als (faktische) Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) angesehen werden. Die Änderungen des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes und des Bayerischen Untersuchungshaftvollzugsgesetzes, aus denen sich für Strafgefangene und für junge Untersuchungsgefangene eine Teilnahmepflicht ergeben kann, sind ebenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Behebung von Sprach- und/oder Integrationsdefiziten dient dem Resozialisierungsgedanken der Strafhaft bzw. dem Bildungsauftrag der Untersuchungshaft bei jungen Untersuchungsgefangenen. Da die Teilnahmeverpflichtung der Gefangenen erst entsteht, wenn die Anstalt ihnen einen Unterricht angeboten hat, kann schon durch das Absehen von einem solchen individuellen Angebot auf mögliche Härtefälle reagiert werden, in denen die Teilnahme eine unangemessene Belastung darstellen würde. Die gesetzliche Regelung bietet damit ausreichenden Spielraum für einen dem Übermaßverbot Rechnung tragenden grundrechtsschonenden Verwaltungsvollzug. (BayVerfGH, Entsch. v. 03.12.2019 – Vf. 6-VIII-17 und Vf. 7-VIII-17)

Pressemitteilung des BayVerfGH v. 03.12.2019

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