Weil sich in der modernen Geschichte die Aufmerksamkeit im Kampf um die Freiheit immer auf die alten Formen der Autorität und des Zwanges konzentrierte, hatte man natürlich das Gefühl, um so mehr an Freiheit zu gewinnen, je mehr man diese traditionellen Zwänge beseitigte. Dadurch erkennen wir nicht genügend, daß der Mensch sich zwar die alten Feinde seiner Freiheit vom Hals geschafft hat, daß ihm dafür aber neue Feinde erwachsen sind – Feinde, bei denen es sich im wesentlichen nicht um äußere Beschränkungen handelt, sondern um innere Faktoren, welche die volle Verwirklichung der Freiheit der Persönlichkeit blockieren.
Wir glauben beispielsweise, die freie Glaubensausübung stelle einen der endgültigen Siege im Kampf um die Freiheit dar. Dabei machen wir uns nicht klar, daß es sich hierbei zwar um einen Sieg über jene Mächte von Kirche und Staat handelt, die dem Menschen nicht erlaubten, sich in seiner Glaubensausübung nach dem eigenen Gewissen zu richten, daß aber der moderne Mensch weitgehend die innere Fähigkeit verloren hat, überhaupt etwas zu glauben, was nicht naturwissenschaftlich nachweisbar ist. Oder um ein anderes Beispiel anzuführen: Wir haben das Gefühl, die Freiheit der Meinungsäußerung sei der letzte Schritt auf dem Siegesmarsch zur Freiheit. Dabei vergessen wir, daß die freie Meinungsäußerung zwar einen wichtigen Sieg im Kampf gegen alte Zwänge darstellt, daß der moderne Mensch sich aber in einer Lage befindet, wo vieles, was „er“ denkt oder sagt, genau dasselbe ist, was auch alle anderen denken oder sagen; daß er sich nicht die Fähigkeit erworben hat, auf originelle Weise (das heißt selbständig) zu denken – was allein seinem Anspruch einen Sinn gibt, daß niemand das Recht hat, ihm die Äußerung seiner Meinung zu verbieten. Außerdem sind wir stolz darauf, daß sich der Mensch in bezug auf seine Lebensführung nicht mehr von äußeren Autoritäten sagen zu lassen braucht, was er zu tun und zu lassen hat. Wir übersehen, welch große Rolle die anonymen Autoritäten wie die öffentliche Meinung und der „gesunde Menschenverstand“ spielen, die eine solche Macht über uns haben, weil wir so durchaus bereit sind, uns den Erwartungen entsprechend zu verhalten, die die anderen an uns stellen, und weil wir eine so tiefsitzende Angst davor haben, uns von ihnen zu unterscheiden. Mit anderen Worten: Wir sind von der Zunahme unserer Freiheit von Mächten außerhalb unserer selbst begeistert und sind blind für die inneren Zwänge und Ängste, die die Bedeutung der Siege, welche die Freiheit gegen ihre traditionellen Feinde gewonnen hat, zu unterminieren drohen. Daher neigen wir zu der Meinung, es gehe bei dem Problem der Freiheit ausschließlich darum, noch mehr von jener Freiheit zu erwerben, die wir bereits im Verlauf der neueren Geschichte gewonnen haben, und wir hätten weiter nichts zu tun, als die Freiheit gegen all jene Mächte zu verteidigen, welche uns diese Art der Freiheit versagen wollen. Wir vergessen, daß zwar jede Freiheit, die bereits errungen wurde, mit äußerster Energie verteidigt werden muß, daß aber das Problem der Freiheit nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives ist; daß wir nicht nur die traditionelle Freiheit zu bewahren und zu erweitern haben, sondern daß wir uns auch eine neue Art von Freiheit erringen müssen, die uns in die Lage versetzt, unser individuelles Selbst zu verwirklichen und zu diesem Selbst und zum Leben Vertrauen zu haben.
Aufgelesen in: Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, 24. Aufl. 2020, S. 81 f.
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