Ian McEwan, Kindeswohl

Dr. Georg NeureitherVon Dr. Georg Neureither, Heidelberg

Nichts Geringeres als die Vermessung der Rechtswelt bietet Ian McEwans kunstvoll komponierte Novelle „Kindeswohl“ (der Verlag sagt „Roman“), in der am Beispiel einer Richterin und eines von ihr zu entscheidenden Falles Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens verhandelt werden, welches das Recht ordnen soll – und doch nicht kann, weil ihm mit der Kategorie des Nicht-Entscheidungserheblichen Irrelevanzen für die Urteilsgründe innewohnen, die eine rechtliche Erledigung befördern mögen, einer menschlichen Befriedung aber zutiefst hinderlich sind. Generalklauseln, durch die wieder hineinkommt, was zuvor hinausgedrängt wurde, sind dann der einzige Ausweg des Rechts aus seiner selbstverschuldeten Unvollständigkeit. Dabei geht es keineswegs juristisch trocken und abgehoben theoretisch zu, so dass nur öden Juristenseelen, die zum Lachen in den Keller gehen, geraten werden könnte, das Buch zu lesen. Im Gegenteil, es geht, wie sich gleich zu Anfang zeigt, munter „zur Sache“: Let’s talk about sex!

Regeln und Freiheit

Fiona ist Familienrichterin am High Court in London. Darin ist sie Meisterin. Ihren Gerichtssaal hat sie fest im Griff: Anwälten fährt Mylady mühelos über den Mund. In ihren Entscheidungen strebt sie nichts weniger als Unanfechtbarkeit an: „Rationalität in aussichtslose Situationen hineinbringen“, darum geht es ihr. „Göttliche Distanz, teuflische Klugheit“, hat der Lordoberrichter ihr einmal in ahnungsvollen Worten bescheinigt.

Bei solcher Meisterschaft im Familienrecht ist es kein Wunder, dass die Familie wenig bis nicht zu ihrem Recht kommt. Zu Kindern hat es nicht gereicht; es fand sich kein passendes Zeitfenster. Mit dem Sex und dem restlichen Eheleben war lange soweit alles in Ordnung gewesen. Seit Fiona aber Richterin geworden war, gehörte sie „dem Gesetz, wie manche Frauen früher Bräute Christi gewesen waren.“ Sie arbeitete noch mehr und hatte demzufolge bald gar kein Privatleben mehr. Wann denn ihr „letztes Mal“ gewesen sei, wird sie von ihrem Mann Jack gefragt und kann es nicht beantworten.

So nimmt dieser sich die Freiheit, seiner Frau nach 35 Jahren Ehe zu eröffnen, dass er eine Affäre mit einer 28-Jährigen haben möchte. „Ich brauche das. Ich bin neunundfünfzig. Das ist meine letzte Chance. Für ein Leben nach dem Tod fehlt meines Wissens bislang jeder Beweis.“ An Scheidung denkt er nicht: Er liebt Fiona und will, dass alles so bleibt, wie es ist. „Aber bevor ich tot umfalle, will ich noch eine große, leidenschaftliche Affäre haben.“

Die Schilderung des Ehe- und Berufslebens ist keineswegs unbedeutender Vorspann, bis es zur zentralen Geschichte um Adam kommt, einem knapp 18-jährigen Jungen, der, wie seine Eltern, bekennender Zeuge Jehovas ist und, wie diese, eine Bluttransfusion ablehnt, die die Klinik zur Behandlung seiner Leukämieerkrankung vornehmen will. Noch weniger ist sie langweilige Beschreibung ehelicher Entfremdung, wie sie schon viel zu oft und in nahezu allen erdenklichen Variationen zu lesen war – „moralischer Kitsch“, wie Fiona es mit einer Portion Verachtung für die Parteien, über die sie zu richten hat, nennt. Hier werden vielmehr wichtige Motive der Novelle ausgestreut, die im weiteren Verlauf ihre Bedeutung offenbaren. Zum Beispiel Dichtung. Der Erlkönig, naheliegend bei einer Adoleszenzgeschichte, versucht des Öfteren, nach den Handelnden zu greifen. Zum Beispiel Musik. Jack liebt Jazz. Als Fiona, selbst eine mehr als gute Pianistin klassischer Musik, es einmal versucht, spielte sie „exakt vom Blatt, aber Jazz kam dabei nicht heraus. Kein Pep, kein Gespür für Synkopen, keine Freiheit, ihre Finger folgten sklavisch den Taktangaben und Noten auf dem Papier. Deswegen habe sie auch Jura studiert, …: Respekt vor Regeln.“

Richterin in fremder und eigener Sache

Vor allem werden die Justiz und Fiona von Anfang an auf eine wahrlich religiös zu nennende Höhe gehoben, auf der beide am Ende gar nicht anders als an ihre Grenzen stoßen können. Fiona „glaubt“ allen Ernstes an das Familienrecht. Ein Rechtsstreit jüdischer Eltern um die richtige Schule für ihre beiden Kinder wird als „Kampf um ihre Seelen“ bezeichnet, den Fiona als „für sie zuständige weltliche Gottheit“ entscheidet: „zwischen totaler Religion“ des Vaters und „einer leichten Abweichung davon“ der Mutter. Womit Fiona kein Problem hat, weil sie nicht mit dem Maßstab der Richtigkeit über die Religion der Eltern urteilt, sondern mit dem der Vernünftigkeit über das Wohl der Kinder: Indem das Gericht den religiösen Konflikt nicht entscheidet, wird es selbst religiös.

Doch was Fiona bei Gericht mit leichter Hand in ihrer unparteiischen Position gelingt, misslingt ihr in ihrem eigenen Streit mit Jack. Hier ist er es, der „ernst und rational“ bleibt, sie reagiert emotional und hilflos: „Wo war der Richter, der ihr zu Hilfe kam?“ Um ihre eigene Sache zu betreiben, ist sie die falsche Instanz. Als Streitpartei begeht sie dieselben Fehler wie die Parteien der Streitigkeiten, deren Richterin sie ist und denen sie sich überlegen gefühlt hatte: So tauscht sie das Schloss der gemeinsamen Wohnung aus, um ihren Mann auszusperren, der inzwischen zu seiner Geliebten gegangen ist.

In einem Urteil hatte sie dargelegt, dass „eine oder mehrere wichtige Beziehungen, die im Wesentlichen von Liebe bestimmt sind“, „im Zentrum all dessen“ stehen. Nun sieht sie sich vor der Erkenntnis: „In dieser Hauptsache hatte sie selbst versagt.“ Inwiefern das in der Tat der Fall ist, trotz der bis dato unangefochten gewesenen Ehe, wird ihr allerdings erst durch Adams Fall bewusst.

Rechtsprechen und Rechtschweigen

Eine erste Anfechtung hat ihr „Glaube“ an das Recht vor einigen Jahren durch „eins der gravierendsten Fehlurteile der letzten Jahrzehnte“ eines Richterkollegen erhalten, der eine Mutter wegen Mordes an ihren Kindern verurteilt und dabei auf die Wahrscheinlichkeitsberechnungen eines Mathematikers vertraut hatte, die sich anschließend als falsch herausstellten. Fiona bewahrte in dieser Sache Stillschweigen, „wie es ihr Amt verlangte“, obwohl es ihr „geradezu Schmerzen“ bereitete.

An ihrem eigenen Urteil zweifelt sie im Fall der siamesischen Zwillinge Matthew und Mark („ihre Apostelnamen … hatten in manchen Kreisen nicht gerade zu klarem Denken beigetragen“), von denen sie einen der „Jungen mit vierunddreißig elegant formulierten Seiten aus dem Dasein argumentiert hatte“. Die Akte kann sie lange nicht schließen, liegt nachts stundenlang wach, kreist um die Einzelheiten und formuliert Teile des eigenen Urteils um. Doch sie „machte weiter wie immer und sagte niemandem ein Wort. Aber was den menschlichen Körper betraf, wurde sie empfindlich, sie konnte sich selbst oder Jack kaum ansehen, ohne sich abgestoßen zu fühlen. Wie sollte sie davon sprechen?“

So hat Fiona nicht allein ihren „Glauben“ an das Recht, sondern durch ihr Schweigen auch ihren Mann verloren. „Dein Problem ist“, wirft er ihr vor, „dass du nie glaubst, dich erklären zu müssen. Du hast dich von mir entfernt. Dir muss doch aufgefallen sein, dass ich das spüre und dass es mir was ausmacht. Wenn ich wüsste, dass es nicht ewig dabei bleibt oder was dahintersteckt, könnte ich vielleicht damit leben.“

Und nun, da Fiona berufliche und private Gewissheit und Sicherheit abhandengekommen sind, der dritte Fall: Adam.

Glaubensgewissheit und Wissenszweifel

Als in der Verhandlung offen bleibt, ob Adam sich der Tragweite seines Wunsches, keine Bluttransfusion zu erhalten, im Klaren ist, entscheidet Fiona, zu ihm ins Krankenhaus zu fahren, um sich ihr Urteil zu bilden. Zuvor, als sie sich in den Fall einzuarbeiten begonnen hatte, hatte sie den Gedanken daran noch als „sentimentale Anwandlung“ abgetan, zumal die persönliche Anhörung stets vom Jugendamt erledigt zu werden pflegt, das dem Gericht dann berichtet. Mit ihrem „unorthodoxen Ausflug“ bricht Fiona aus ihrer Rolle als Richterin, aus ihrem Leben aus.

Das Juristische ist schnell erledigt: Adam ist sich unzweifelhaft im Klaren, was geschehen kann, wenn er die Bluttransfusion verweigert. Mit geringer Wahrscheinlichkeit kann er vollständig geheilt werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit wird er sterben, nicht ausgeschlossen ist allerdings auch, dass er gravierende Schäden davonträgt: des Augenlichts, der Nieren, des Gehirns. Die Glaubensaussagen der Zeugen Jehovas, die sein Schicksal bedeuten, spricht er aus „wie ein Entdecker fundamentaler Tatsachen, wie jemand, der Lehrsätze formuliert, nicht wie einer, der sie nachplappert. Was sie da hörte, war eine Predigt, voller Überzeugung und Leidenschaft.“

So stellt Adam Fionas Zweifeln seine Gewissheit entgegen. „Warum ist irgendetwas unrecht? Weil wir es wissen. Folter, Mord, Lügen, Stehlen.“ Um sogleich noch – er heißt nicht umsonst Adam – die strafprozessuale „fruit of the poisonous tree“-Lehre nachzulegen: „Selbst wenn wir durch Folter aus schlechten Menschen nützliche Informationen herauspressen können, wissen wir, dass es unrecht ist.“ Fiona erfasst angesichts dieser Klarheit „Schwindel“, „Leere“, „Sinnlosigkeit“. „Religionen, moralische Prinzipien, auch ihre eigenen, waren wie Gipfel in einem dichtgefügten Gebirgszug, aus großer Entfernung gesehen: keiner eindeutig höher, wichtiger, wahrer als die anderen. Wie sollte man da urteilen?“

Diese Frage nach dem Maßstab menschlichen Entscheidens bildet einen Kern der Novelle. Nicht umsonst ist sie Ray Dolan gewidmet, der am University College London erforscht, wie Entscheidungen in unserem Gehirn entstehen.

Das ganze Leben und die ganze Liebe

Wo der rechtliche Maßstab fehlt, tritt der menschliche hervor. Fiona lässt Kontrollverlust und Nähe zu. „Die Szene entfaltete oder entlud sich, ohne ihr Zutun, und sie hinkte benommen hinterher.“ Und doch: „Es war die richtige Entscheidung gewesen, hierherzukommen.“

Als Adam fragt, wie man sie im Gericht anspricht, antwortet sie: „Normalerweise mit ‚Myladyʻ“, und setzt hinzu: „Fiona reicht vollauf.“ In den selbst geschriebenen Gedichten, die Adam ihr vorliest, spiegeln sich die eigenen Gedichte ihrer Jugendjahre wieder, die sie jedoch nie jemandem vorgetragen hatte. Seit einem Monat lernt Adam Geige und zeigt ihr nun, was er schon spielen kann. Schließlich macht sie „einen Vorschlag, der ihr sonst nicht im Traum eingefallen wäre, der ihre Autorität zu untergraben drohte“: „Spiel’s noch einmal, und diesmal singe ich mit.“ Ehe sie geht, berührt sie flüchtig sein Handgelenk; seine Frage, ob sie wiederkommt, beantwortet sie nicht.

Mit gutem Grund kann in diesem Duett bereits jene „sich ereignete unerhörte Begebenheit“, die nach Goethe eine Novelle kennzeichnet, gesehen werden. Die zentrale Stellung der Szene in der Mitte des Buches legt eine solche Lesart ebenfalls nahe. Nach meinem Dafürhalten müssen wir uns dafür jedoch noch eine kleine Weile gedulden.

Obwohl Adam, wie Fiona gesehen hat, selbst entscheiden dürfte, setzt sie sich darüber hinweg, urteilt gegen und damit für ihn. Zur „Begründung“ – rechtlich gesehen kann das nur in Anführungszeichen gesetzt werden – führt sie an, er sei „ein wunderbarer Junge“; er habe „noch kaum Gelegenheit gehabt, sich auf dem unüberschaubaren Feld religiöser und philosophischer Ideen genauer umzusehen“; für sein Wohl wichtig seien „seine Liebe zur Poesie, seine erst vor kurzem entdeckte Leidenschaft für die Geige, seine lebhafte Intelligenz, sein verspieltes, warmherziges Wesen, das ganze Leben und die ganze Liebe, die noch vor ihm liegen.“

Vor Fionas Wohnungstür wartet Jack, zurückgekehrt, der seinen Fehler bekennt, sagt, dass es falsch war, „alles aufs Spiel zu setzen, alles, was wir haben, alles, was wir miteinander geschaffen haben, diese Liebe, die –“ – Kriterien, welche mit Blick auf die gemeinsame Vergangenheit in ihrer Unabgeschlossen- und Allumfassendheit denen sehr nahestehen, die Fiona in ihrem Urteil in Bezug auf Adams Zukunft verwendet hatte. Beide Male handelt es sich um Bekenntnisse, nicht um Erkenntnisse, nur, dass das Bekenntnis, im Kontext gesehen, in Jacks Schuldeingeständnis am Platz, in Fionas Urteilsbegründung fehl am Platz ist. Für Fiona ist es jedoch noch zu früh, sie gibt Jack lediglich einen Schlüssel zur Wohnung; er schläft im Gästezimmer.

McEwans Irrtum und ein bisschen Theorie

McEwan schreibt in dieser Wiederbegegnungsszene Fiona und Jack zu, sie „wussten beide um die Kraft des Ungesagten.“ Das mag für Jack richtig sein, für Fiona ist ihm, was ihre generelle Disposition anlangt, zu widersprechen: Es war ihr Schweigen, durch das sie sich von ihm entfernt hatte, ohne dass sie sich dessen bisher bewusst geworden ist. Selbst die Grundlagen der Kommunikation beherrscht Fiona nicht, deren erstes Axiom nach Paul Watzlawick lautet: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Und davon, dass Störungen auf der Beziehungsebene vor Störungen auf der Inhaltsebene anzugehen sind, hat sie auch noch nie gehört: Ihr Eheleben war ja „irrelevant“. Hat Adam von Fiona nun mehr zu erwarten?

Aus dem Dunkel der Höhle hinaus ans Licht des Tages

Drei Briefe schickt er ihr nach seiner Genesung. Im ersten berichtet er von der Erleichterung seiner Eltern, die sich an die Lehre ihrer Religion gehalten hatten und deren Sohn dennoch gerettet worden war, denn „Schuld hat die Richterin“. Ein eindrückliches Beispiel für die Entlastungswirkung des Rechts. Die Erleichterung seiner Eltern über die Rettung ihres Sohnes ist für Adam Ursache, deren Glauben anzuzweifeln und seinen eigenen auch. Durch die Heilung verliert er seine Glaubensgewissheit und sucht Ersatz ausgerechnet bei Fiona mit ihren Wissenszweifeln. Fiona, schreibt Adam, habe ihn „nah an etwas anderes herangeführt, an etwas wirklich Schönes und Tiefes, nur dass ich nicht recht weiß, was das ist.“ Deshalb will er sie wiedersehen und mit ihr reden: „Ich brauche Ihren klaren Verstand“. Fiona antwortet ihm nicht: „Besser, ihm gar nicht zu antworten, als ihn zu enttäuschen“, sagt sie sich.

Auch Adams zweiter Brief, der sein Staunen über „das ganze Leben“ und über „die ganze Liebe“ beschreibt und damit die Richtigkeit von Fionas Urteil unterstreicht, bleibt unbeantwortet. Kurz vergewissert sie sich bei der Sozialarbeiterin, dass alles in Ordnung ist, um sich dann beruhigt dagegen zu entscheiden, ihm zu schreiben.

In seinem dritten Brief schließlich, den Adam ihr allerdings erst nach ihrem unheilvollen Wiedersehen schreibt, schickt er ihr eine selbst gedichtete Ballade, deren Schluss Fiona erst entziffern kann, nachdem sie sich ihres Fehlers und ihrer Schuld – gegenüber Adam und gegenüber Jack – bewusst geworden ist. „Aber den Brief nicht zu beantworten war ein Gebot der Freundlichkeit.“ „Und doch ist es in manchen Fällen“, lesen wir in Goethes Wahlverwandtschaften – ganz in kommunikationstheoretischer Intention, dort aber zutiefst menschlich empfunden –, „notwendig und freundlich, lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben.“

„Eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“

Als Fiona eine Gerichtsreise nach Newcastle unternehmen muss, ein Ort ihrer Jugendzeit, reist Adam ihr nach. In ihrem Schwanken zwischen Richtersein und Menschsein, Einhalten und Verletzen der Regeln, Recht und Freiheit, wählt sie bei ihrem Wiedersehen zunächst eine sehr distanzierte Form von Nähe, indem sie ihn, der sie mit „Mylady“ anspricht, barsch unterbricht: „Schluss damit. Fiona bitte.“ Adam war ihr gefolgt, um ihr seinen Wunsch mitzuteilen, bei Fiona zu wohnen. Damit spricht er lediglich aus, was Fiona schon im Krankenhaus selbst gedacht hatte: „Den Jungen mit nach Hause nehmen und aufpäppeln.“

Fiona ist nicht klar, was sie in Adams Fall „richtig“ gemacht hatte. Er sagt es ihr: „Sie haben zugehört, Sie haben Fragen gestellt… Und genau das war es. Sie haben so was an sich, ein gewisses Etwas.“ Und als Fiona immer noch nicht versteht, nochmals: „Sie haben bloß Fragen gestellt und zugehört. Das ganze Leben und die ganze Liebe, die noch vor ihm liegen – das haben Sie geschrieben. Das war das ‚gewisse Etwas‘. Und meine Offenbarung.“

Dass Adams Ansinnen „unmöglich“ ist, versteht sich. Doch es ist folgerichtig: Fiona war Adam nicht als Justitia, sondern als Fiona begegnet, hatte keine rechtliche, sondern eine menschliche Entscheidung getroffen, hatte, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, nicht geschwiegen, sondern sich auf einen Dialog eingelassen, und ihn aus dem Dunkel der Höhle hinaus ans Licht des Tages gebracht. Bis die Augen sich daran gewöhnen, braucht es indes Zeit und in dieser Zeit eine Anleitung im Umgang mit der blendenden Freiheit. Das erhofft sich Adam von Fiona: „Sie könnten mir Bücherlisten geben mit allem, was ich lesen sollte“. Für Adam war der Fall nicht abgeschlossen, für ihn fing alles erst an: „Ich bin jetzt ein anderer Mensch.“ Für Fiona hingegen ist der Fall abgeschlossen: „Du musst jetzt gehen.“

„Sie fasste ihn sanft am Revers seiner dünnen Jacke und zog ihn zu sich heran. Eigentlich wollte sie ihm einen Kuss auf die Wange drücken, aber als sie sich reckte und er sich ein wenig hinunterbeugte, ihr Gesicht dicht vor seinem, drehte er den Kopf, und ihre Lippen trafen sich. Sie hätte zurückweichen können, sie hätte auf der Stelle von ihm abrücken können. Stattdessen blieb sie, wo sie war… Eine flüchtige Berührung, aber mehr als nur ein Hauch, mehr als der Kuss, den eine Mutter ihrem erwachsenen Sohn geben würde.“

Kindeswohl

Über diese „unbesonnene Torheit“, diesen „Verstoß gegen das Berufsethos“, diesen „beruflichen und gesellschaftlichen Wahnsinn“ grübelt sie auf der Rückfahrt nach und ruft, während sie gedankenverloren mit dem Mobiltelefon in ihren Händen spielt, „ohne zu überlegen, aus Gewohnheit, ohne an den Stand der Dinge zwischen ihnen zu denken“, zu Hause an. Durch den Kuss, den sie Adam gegeben hat, erkennt sie, dass sie sich in derselben Weise gegenüber Jack verfehlt hat, wie dieser sich ihr gegenüber verfehlt hatte. Sie vermag ihre Position als Richterin über Jack aufzugeben und ihn nun auf gleicher Ebene so wahrzunehmen, „als sei es das erste Mal…, wie damals vor vielen Jahren, als sie sich in ihn verliebt hatte.“

Wie groß die Befreiung ist, die Fiona empfindet, zeigt das alljährliche Konzert, das sie und ein tenoraler Anwalt wenig später geben. Die Beschreibung dieses Konzerts ist ein großes Ritardando vor dem Schluss der Novelle, in dem Fiona ihr Schweigen beenden und Jack ihren Fehler gestehen kann. „Sie mussten sich nicht mehr darauf konzentrieren, alles richtig zu machen, sondern konnten sich ohne jede Anstrengung in der Musik auflösen… Ihre Finger spielten von allein. Während sie über die Tasten flogen, hörte sie sich selbst, als säße sie ganz hinten im Publikum, als würde von ihr nichts anderes verlangt, als anwesend zu sein.“

Und Adam? Adam stirbt. Nach dem Konzert bekommt Fiona die Nachricht, dass seine Krankheit wieder ausgebrochen war, er die Bluttransfusion verweigert hatte und gestorben ist, woraufhin sie die Ballade seines dritten Briefes hervorholt und deren Schluss nun entziffern kann: eine Vorwegnahme seines Todes, an dem Fiona, wie sie jetzt sieht, Anteil hat: „Sie hätte ihm entgegenkommen sollen. Stattdessen hatte sie ihn, aus einem unverzeihlichen Impuls heraus, geküsst und dann weggeschickt. Und war dann selbst davongelaufen. Hatte seine Briefe nicht beantwortet. Hatte die Warnung in seinem Gedicht nicht entziffert… Ihre Verfehlung lag jenseits der Reichweite jedes Disziplinarverfahrens. Adam hatte sich an sie gewandt, und sie hatte ihm nichts geboten, keinen Ersatz für seine Religion, keinen Schutz, dabei war das Gesetz eindeutig, sein Wohl hatte ihr als oberste Richtschnur zu dienen. Wie viele Seiten wie vieler Urteile hatte sie diesem Begriff gewidmet? … Sie hatte geglaubt, ihre Verantwortung ende an der Tür des Gerichtssaals. Aber wie sollte das gehen?“

Eine Meisternovelle

„Kindeswohl“ ist ein kleines Buch der großen Themen, die unaufdringlich, wie nebenher laufend, in die Handlung eingewoben werden und die dadurch zeigen, dass sie exzeptionellen Raum greifen, wenn ihnen marginale Beachtung geschenkt wird.

Hiesige Juristen erhalten manchen vergleichenden Einblick in die englische Justiz, etwa, dass der Eid auf die Bibel abgelegt wird: irritierend aus Sicht einer Trennung von Staat und Kirche wie hierzulande, naheliegend aus Sicht eines Staatskirchentums wie in England.

Ob man sich an der für das übrige Buch ungewöhnlich direkten und in seiner zurückhaltenden Konstruktion nicht wirklich angelegten Intention stört, dass Sinn „nur aufgeklärte Menschen – nicht das Übernatürliche – geben können“, sei dem Urteil des Lesers überlassen. Gleich, wie der Leser auch dazu stehen mag, – McEwan hat eine Variante der Vertreibung aus dem Paradies geschrieben, die uns ermutigt, Mensch zu sein. Eine Meisternovelle.

Ian McEwan, Kindeswohl. Zürich: Diogenes, 2015. 224 Seiten. ISBN 978-3-257-06916-7. € 21,90.

Anmerkung der Redaktion

Dr. Georg Neureither ist Gründer und Inhaber der Internetplattform „Religion – Weltanschauung – Recht [ RWR ]“. Außerdem ist er Lehrbeauftragter für Staatskirchenrecht und Kirchenrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Lehrbeauftragter für Religionsverfassungsrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Prüfer in der Ersten juristischen Prüfung in Baden-Württemberg.

Eine Antwort to “Ian McEwan, Kindeswohl”

  1. Law & Religion UK (@FCranmer) Says:

    „… der Eid auf die Bibel abgelegt wird: irritierend aus Sicht einer Trennung von Staat und Kirche wie hierzulande, naheliegend aus Sicht eines Staatskirchentums wie in England“.

    The oath on the Bible is not obligatory: one can affirm (make a solemn promise to tell the truth) instead. I would certainly do so.

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