„Sie sind Jurastudenten im ersten Semester… Meinen Glückwunsch dazu. Als Erstsemester werden Sie die übliche Mischung aus Seminaren belegen: Vertragsrecht, Schadensersatzrecht, Eigentumsrecht, Zivilprozessrecht und im kommenden Jahr dann Verfassungsrecht und Strafrecht. Aber das wissen Sie alles. Was Sie nicht wissen, ist, dass diese Mischung auf wunderbar einfache Weise die Struktur unserer gesamten Gesellschaft widerspiegelt, die Mechanismen dessen, was eine Gesellschaft, was unsere Gesellschaft in ihrem Innersten zusammenhält. Jedes Gesellschaftssystem braucht zunächst einmal einen institutionellen Rahmen: Das ist das Verfassungsrecht. Es braucht ein System der Bestrafung: Das ist das Strafrecht. Weiter braucht man ein System, das das Funktionieren dieser übrigen Systeme garantiert: Das ist das Zivilprozessrecht. Man muss Angelegenheiten von Besitz und Inhaberschaft verwalten: Das ist das Eigentumsrecht. Es muss sichergestellt werden, dass jemand finanziell für Verletzungen geradesteht, die mir von anderen zugefügt werden: Das ist das Schadensersatzrecht. Und zuletzt muss dafür Sorge getragen werden, dass die Leute ihre Vereinbarungen einhalten, dass sie sich an gegebene Versprechen halten. Und das ist das Vertragsrecht…
Ich hoffe, ich vereinfache nicht zu sehr, aber ich wette, die Hälfte von Ihnen ist hier, damit Sie den Leuten eines Tages das Geld aus der Tasche ziehen können – Schadensersatzspezialisten, nichts, wofür man sich schämen müsste! – und die andere Hälfte von Ihnen ist hier, weil Sie glauben, die Welt verändern zu können. Sie sind hier, weil Sie davon träumen, sich vor dem Obersten Gerichtshof zu streiten, weil Sie denken, die wahre juristische Herausforderung liege in den Räumen zwischen den Zeilen der Verfassung. Aber ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass es sich anders verhält. Das wahrhaftigste, das intellektuell anspruchsvollste, das reichhaltigste juristische Feld ist das Vertragsrecht. Ein Vertrag ist nicht einfach nur ein Stück Papier, das Ihnen einen Arbeitsplatz, ein Haus oder eine Erbschaft zusichert: In ihrem reinsten, wahrhaftigste und weitesten Sinn regeln Verträge alle Bereiche des Rechts. Wenn wir uns dafür entscheiden, innerhalb einer Gesellschaft zu leben, dann entscheiden wir uns dafür, gemäß eines Vertrages zu leben und die Regeln zu befolgen, die uns ein Vertrag vorgibt – die Verfassung selbst ist ein Vertrag, wenn auch ein großzügig auslegbarer Vertrag, und in der Frage, wie großzügig er tatsächlich auslegbar ist, begegnen sich das Recht und die Politik – und es sind die mal deutlich, mal weniger deutlich formulierten Regeln dieses Vertrages, denen wir folgen, wenn wir versprechen, nicht zu töten, Steuern zu zahlen und nicht zu stehlen. Doch in diesem Fall sind wir sowohl die Schöpfer als auch die Unterzeichner des Vertrages: Als Bürger dieses Landes haben wir von Geburt an die Verpflichtung angenommen, seine Bedingungen zu respektieren und zu befolgen, und wir tun es tagtäglich.
Natürlich werden Sie in diesem Seminar die Mechanismen des Vertragswesens kennenlernen – wie ein Vertrag entsteht, wie er gebrochen wird, wie bindend er ist und wie man sich von ihm entbindet –, aber Sie werden auch angehalten sein, das Recht selbst als eine Reihe von Verträgen zu betrachten. Manche sind – und dieses eine Mal werde ich Ihnen erlauben, diese Ansicht zu äußern – fairer als andere. Aber Fairness ist nicht die einzige, ja nicht einmal die wichtigste Kategorie des Rechts: Das Recht ist nicht immer fair. Verträge sind nicht fair, nicht immer. Aber manchmal ist das notwendig, weil es das Funktionieren der Gesellschaft sichert. In diesem Seminar werden Sie den Unterschied zwischen Fairness und Gerechtigkeit und, was ebenso wichtig ist, zwischen Fairness und Notwendigkeit lernen. Sie werden etwas über die Verpflichtung lernen, die wir als Mitglieder einer Gesellschaft einander gegenüber haben, und darüber, wie weit die Gesellschaft darin gehen sollte, die Einhaltung dieser Verpflichtungen durchzusetzen. Sie werden lernen, Ihr Leben – unser aller Leben – als eine Reihe von Verpflichtungen zu betrachten, und das wird Ihre Sichtweise nicht nur auf das Recht, sondern auch auf unser Land selbst und auf Ihren Platz darin verändern.“
(Hanya Yanagihara, Ein wenig Leben, 15. Aufl. 2024, S. 158 ff.)





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