Wird eine solche Regel allgemein und unterschiedslos angewandt, kann sie durch den Willen einer Gemeinde gerechtfertigt sein kann, ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld zu gestalten.
Mit zwei Einzelentscheidungen wurde einer Bediensteten der Gemeinde Ans (Belgien) untersagt, das islamische Kopftuch an ihrem Arbeitsplatz zu tragen. In diesem Zusammenhang änderte die Gemeinde dann ihre Dienstordnung und verpflichtet nunmehr ihre Bediensteten zur strikten Neutralität, wobei sie jede Form von Proselytismus verbietet und das Tragen von auffälligen Zeichen der ideologischen oder religiösen Zugehörigkeit untersagt. Nach Ansicht der Bediensteten verletzt die Gemeinde damit ihre Religionsfreiheit.
Nach Auffassung des ArbG Lüttich (Belgien), das von der Bediensteten angerufen wurde, stellt diese Regel keine unmittelbare Diskriminierung wegen religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen dar, aber dem Anschein nach eine auf diesen Kriterien beruhende mittelbare Diskriminierung.
Dieses Gericht fragt sich, ob nach der Richtlinie über die Nichtdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf (Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11. 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf [ABl. 2000, L 303, S. 16]) die Tatsache, dass allen Angestellten eines öffentlichen Dienstes – sogar denjenigen, die keinen direkten Kontakt mit den Nutzern der öffentlichen Dienstleistung haben – eine „exklusive und absolute“ Neutralität auferlegt wird, ein rechtmäßiges Ziel darstellt und ob die Mittel zur Erreichung dieses Ziels, nämlich das Verbot des Tragens von Zeichen bestimmter Überzeugungen, angemessen und erforderlich sind.
In seinen Schlussanträgen stellt Generalanwalt Anthony Collins fest, dass die Dienstordnung der Gemeinde Ans insoweit in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt, als diese sowohl für den öffentlichen als auch für den privaten Bereich gilt und ein Verbot wie das in Rede stehende unter die „Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen“ im Sinne dieser Richtlinie fällt. Er weist ebenfalls darauf hin, dass der Begriff „Religion“ in dieser Richtlinie sowohl die Tatsache, Überzeugungen zu haben, als auch die öffentliche Äußerung des religiösen Glaubens wie etwa die Tatsache, dass eine Frau das islamische Kopftuch trägt, umfasst.
Seiner Ansicht nach lässt der allgemeine Rahmen, den diese Richtlinie festlegt, den Mitgliedstaaten einen Wertungsspielraum, der umso größer ist, wenn Grundsätze auf dem Spiel stehen, die unter die nationale Identität der Mitgliedstaaten fallen könnten. Das Vorsehen von Beschränkungen der Freiheit der Bediensteten des privaten Sektors, ihre politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen bei Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu äußern, kann in einigen Mitgliedstaaten von so großer Bedeutung sein, dass es unter die nationale Identität fällt, die sich in den grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen dieser Mitgliedstaaten zeigt.
Nach Ansicht von Generalanwalt Collins stellt die Dienstordnung einer öffentlichen Einrichtung, die den Bediensteten mit dem Ziel, ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld zu gestalten, das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne der Richtlinie dar, sofern dieses Verbot allgemein und unterschiedslos angewandt wird.
Hinsichtlich der Frage, ob dieses Verbot eine mittelbare Diskriminierung darstellt, ist nach Auffassung von Generalanwalt Collins, obwohl es dem Anschein nach neutral ist, nicht ausschließen, dass es in der Praxis mehrheitlich eine bestimmte Gruppe von Personen wie etwa Bedienstete der Gemeinde trifft, die religiöse Gebote befolgen, die ihnen eine bestimmte Bekleidung vorschreiben, insbesondere weibliche Arbeitnehmer, die auf Grund ihres muslimischen Glaubens ein islamisches Kopftuch tragen, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu beurteilen ist. Er fügt hinzu, dass eine solche Ungleichbehandlung allerdings keine mittelbare Diskriminierung begründen würde, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt wäre und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich wären.
Der Wille, eine Politik der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Neutralität innerhalb einer öffentlichen Einrichtung zu betreiben, kann ohne Weiteres ein rechtmäßiges Ziel darstellen, insbesondere im Hinblick auf die Achtung der weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen der Bürger sowie die erforderliche nichtdiskriminierende und gleichberechtigte Behandlung der Nutzer einer öffentlichen Dienstleistung.
Im Übrigen hängt die Existenz einer objektiven Rechtfertigung für eine solche Trennung von den unterschiedlichen Auffassungen von Neutralität ab, die in Belgien vertreten sind. Generalanwalt Collins stellt fest, dass sich die Gemeinde mit der Verhängung des Verbots aus freien Stücken für die „exklusive Neutralität“ entschieden habe, und dies, um ein „vollständig neutrales Verwaltungsumfeld“ zu schaffen. Es obliege der Gemeinde der Nachweis, dass ihre Entscheidung einem echten Bedürfnis entspricht, und es obliege dem ArbG Lüttich die Beurteilung dieses Nachweises unter zwei Blickwinkeln, die nicht notwendigerweise kumulativ seien. Zum einen müsste das ArbG Lüttich laut Generalanwalt Collinsberücksichtigen, dass in Belgien offenbar keine gesetzliche oder verfassungsmäßige Verpflichtung besteht, die Bediensteten einer Gemeinde die Achtung einer exklusiven Neutralität auferlegt. Zum andern wäre zu prüfen, ob es tatsächliche Gesichtspunkte gibt, die die Entscheidung der Gemeinde rechtfertigen. Insoweit wirft das vorbehaltlos gestattete Tragen von Zeichen weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen in anderen Städten Belgiens in legitimer Weise die Frage der Berechtigung des in Rede stehenden Verbotes auf. (GA Collins, Schlussanträge v. 04.05.2023 – C-148/22 [Commune d’Ans])
Pressemitteilung des EuGH Nr. 74 v. 04.05.2023
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