Aufgelesen LXVIII – Die öffentliche Ordnung und ihre gefühlten Grenzen

Die Frage, wie Verrückte vor sich selbst zu schützen sind (und wie andere vor ihnen), ist nicht einfach zu beantworten. Rechtliche Grundlage ist hierbei das Psychisch Kranken-Gesetz, kurz PsychKG, ein Ländergesetz. Wann ist es angezeigt, einem psychisch kranken Menschen seine Freiheitsrechte zu entziehen, eine Unterbringung anzuordnen und ihn einer Zwangsmedikation zuzuführen? Der Schlüsselausdruck lautet hier „Selbst- oder Fremdgefährdung“. Wer sich selbst oder andere (oder Rechte oder Besitztum anderer) gefährdet und durch ärztliches Attest für psychisch krank befunden wird, kann durch Beschluss des Amtsgerichts „untergebracht“, also de facto weggesperrt werden. Es gehe hierbei auch um die Wahrung der öffentlichen Ordnung, heißt es. Die öffentliche Ordnung wiederum ist die Gesamtheit der ungeschriebenen Gesetze, die ein gemeinschaftliches Zusammenleben ermöglichen. Schon sind wir in den unscharfen Gebieten des Common Sense. Wer definiert denn diese „ungeschriebenen Gesetze“? Ich muss doch erkennen können, welche Rechtsfolgen sich aus meinem Verhalten ergeben, was genau passiert, wenn ich die Ordnung störe – so will es jedenfalls der sogenannte Bestimmtheitsgrundsatz. Und „ungeschrieben“ kann vieles sein. Im Grunde sind das alles gefühlte Grenzen…

Haben die Aufenthalte mich denn an irgendetwas gehindert, Schlimmeres verhindert? Vielleicht haben sie das, ich kann es nicht wissen… Nein, sie haben rein gar nichts gebracht. Oder doch: Die anderen konnten zeitweise aufatmen.

Und was heißt das überhaupt: verrückt, psychisch krank? Ich finde einen Mord schon so verrückt, dass ich jedem Mörder sofort ein Verrücktheitsattest ausstellen würde. Und ihn damit vertrackterweise von seiner Schuld freispräche…

Ich bin mit allem einverstanden; ich verweise aber die auf die Unschärfe der gesetzlichen Lage. Es gibt willkürliche Momente… Die Grenzen zwischen Hilfeleistungen und Übergriff sind fließend, das macht die ganze Sache so kompliziert und heikel.

Dass die Art und Weise, wie man zum bürokratisierten Objekt wird, mit Würde nur noch wenig zu tun hat, ist eine andere Sache. Die Privatisierung und Kapitalisierung des Gesundheits- und Sozialwesens macht den Randständigen zur auspressbaren Ware. Denn plötzlich schubsen dich Leute herum, die du sonst nicht mit dem Arsch angesehen hättest, kleinkarierte, amtsmüde Funktionsträger, die dich ihre winzige, verrottete Macht spüren lassen nach Lust und Laune und unterm Strich auch noch auf den Umsatz achten müssen. Denn es darf kein Nullsummenspiel sein, Gewinn ist Pflicht.

Und willst du dich nicht fügen, schnappen sie langsam, aber unerbittlich zu wie Klemmbügel in alten Leitz Ordnern. Die Bürokratisierung der Hilfestellungen mengt dem ganzen Komplex so viel Willkürliches und Unmenschliches bei, dass jeder, der diesen Zwängen entkam, sich wundern muss, wie er das bewerkstelligt hat.

Doch wie soll man es anders lösen?

Aufgelesen in: Thomas Melle, Die Welt im Rücken, 5. Aufl. (2016), S. 173 ff.

Hinterlasse einen Kommentar