Aufgelesen 167 – Wenn Richter hungrig sind

Über eine verstörende Demonstration von Auswirkungen der Ego-Depletion auf Urteile wurde unlängst in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences berichtet. Die ahnungslosen Studienteilnehmer waren acht Bewährungsrichter in Israel.

Sie verbrachten ganze Tage damit, Anträge auf bedingte Entlassung zu prüfen. Die Fälle wurden ihnen in zufälliger Reihenfolge vorgelegt, und die Richter verwendeten auf jeden einzelnen nur wenig Zeit, im Schnitt sechs Minuten. (Die Standardentscheidung ist die Ablehnung des Antrags auf bedingte Entlassung: nur 35 Prozent der Gesuche wurden positiv entschieden. Die genaue Zeit der Beschlussfassung wurde aufgezeichnet, und die Zeiten der drei Essenspausen der Richter – morgens, mittags und nachmittags – wurden ebenfalls notiert.) Die Autoren der Studie trugen in einem Diagramm den Prozentsatz der bewilligten Anträge gegen die seit der letzten Essenspause vergangene Zeit auf. Der Prozentsatz gipfelte nach jedem Essen, wenn etwa 65 Prozent der Anträge bewilligt wurden. Im Verlauf der nächsten zwei Stunden, bis zur nächsten Speisung Richter, sank die Bewilligungsquote stetig, auf etwa null unmittelbar vor dem nächsten Mahl. Sie ahnen vielleicht, dass dies ein unerwünschtes Ergebnis ist, und die Autoren überprüften sorgfältig viele alternative Erklärungen. Die bestmögliche Erklärung der Daten hält schlechte Neuigkeiten für uns bereit: Erschöpfte und hungrige Richter scheinen auf leichtere Standardposition der Ablehnung von Bewährungsgesuchen zurückzufallen. Vermutlich spielen dabei sowohl Erschöpfung als auch Hunger eine Rolle.

(Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, 15. Aufl. 2012, S. 60 f.)

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